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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 283

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KUHLENBECK: DAS WELTALL UND DAS INDIVIDUUM.

Materie, die Welt als Ganzes, das Uni-
versum oder All ist ein Individuum. Also
wäre alle reale Theilung, alles Trennen
und Verbinden der Stoffe und Körper nur
Schein? Allerdings behaupten wir es, und
dies nennen wir monistische Weltanschau-
ung. Zwar der Chemiker und Physiker
oder der Mann mit dem Seciermesser
trifft niemals in der Materie auf dies
geistige Band — nicht mit dem Messer,
nicht mit dem Mikroskop oder sonstigen,
noch so feinen Instrumenten, sondern mit
dem Verstande ist es zu erreichen —
und man nennt es Naturgesetz. In jedem
besonderen Naturgesetz, das man wissen-
schaftlich formuliert, hat man aber nur
einen Proteus am Schopfe gefasst, nur
eine von unendlich wechselnden Gestalten
des einen, des höchsten Naturgesetzes,
das man niemals festhalten kann, das
man auch mit abstracten Formeln, wie
»Erhaltung der Kraft«, »Äquivalenz«
u. s. w. nur höchst unzureichend deutet,
indem hier selbst der vermeintlich exacteste
Empiriker schließlich in die Metaphysik
mündet: die Welt ist ein Individuum, d. h.
sie ist Einheit, All-Eines. Der bloß negative
Begriff des Untheilbaren wird also positiv
zur Einheit. Einheit aber ist nicht Ein-
fachheit, sondern setzt Unterschiedlichkeit
in sich selber voraus. Vielleicht das
Einfachste, was wir denken können, ist
der mathematische Punkt. Es wäre aber
sprachlich falsch, ihn eine Einheit zu
nennen — er ist höchstens Eins. Erst
in der Linie gelangen wir zur Einheit
mehrerer Punkte. So gelangen wir zu
einem ferneren Begriffsmoment der Einheit
oder des Individuums, zur Continuität oder
Stetigkeit. Die Welt ist ein Individuum
heißt: sie ist ein einheitliches, unendliche
Verschiedenheiten durch stetigen Zu-
sammenhang (Naturgesetzlichkeit) untheil-
bar verbindendes Wesen.

Wir nannten die realen Theilungen, das
Trennen und Verbinden, das sich mit
oder ohne unser eigenes Zuthun stetig in
der Welt vollzieht, bloßen Schein. Um
uns hier vor einem Missverständnis zu
wahren, müssen wir betonen, dass auch
der Schein eine Wirklichkeit ist, ja dass
jeglicher Schein Wirkung ist, dass wir
also, wenn wir etwas zum Schein degra-
dieren, nur seine Bedeutung anders aus-

legen. Wir wollen also nur sagen, dass
es ganz unmöglich ist, irgendein Wesen
in der Welt von der Welt, von seinem
Zusammenhang mit dem Ganzen zu
trennen; der Wechsel des Scheins, das
Werden und Vergehen ist nur ein Wechsel
der Stellung im Ganzen. Dieser ewige
Wechsel, dieses ewige Werden, das zu-
gleich Vergehen und umgekehrt ist, ist
eben die empirische Wirklichkeit, genau
so wie in uns selber der Wechsel der
Vorstellungen, Gefühle und Wollungen
unser empirisches Ich ist. Die Außenwelt
oder Erscheinungswelt hat also dieselbe
empirische Wirklichkeit wie unsere Innen-
welt. Beide Welten sind aber bloßer
Schein einer transcendenten (intelligiblen)
Welt.

Die Außenwelt ist in uns. Der Idealis-
mus hat recht, solange er nicht Soliphis-
mus wird. Aber wir sind auch in der
Außenwelt. Der unendliche Raum mit all
seinem Inhalt bis zum undeutlichen Nebel
der Milchstraße ist unsere Vorstellung, ist
(zunächst) nur in unserem Kopfe. Wiederum
aber sehen wir auch uns selbst in diesem
unseren Bewusstseinsfocus innerhalb dieses
unendlichen Raumes als einen davon un-
trennbaren Theil, wir sind mit unserem
Kopfe der Mittelpunkt dieser Welt, die,
weil unendlich, den Mittelpunkt überall
hat. Damit haben wir den Monismus ge-
streift, den ich den erkenntnistheoretischen
nennen möchte, den logisch weiter auszu-
spinnen hier noch nicht der Ort ist.

Wie nun ist es möglich, dass die
Welt ein Individuum ist und dass zugleich
ich selber, als Theil dieser Welt, ein
Individuum bin? Muss nicht die Indivi-
dualität des Alls meine eigene Individualität
aufheben, mich zu einem bloßen Schein,
einem Modus, einem bloß aufblitzenden
Gedankenfunken des Gesammtbewusstseins
degradieren?

Halten wir nur fest an dem Begriffe
der Immanenz oder Selbstschöpfung, so
brauchen wir diesen logischen Selbstmord
nicht zu begehen. Was ist ein Gedanke
in uns? Nichts, wenn wir es nicht selber
sind, in dieser denkenden Selbstbestim-
mung! Hat man je einen Gedanken ge-
sehen, der sich von uns ablöste und ein Leben
für sich führte? Jeder meiner Gedanken
ist mein Ich — nicht etwas in diesem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 283, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-14_n0283.html)