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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 284

Text

KÜHLENBECK: DAS WELTALL UND DAS INDIVIDUUM.

Ich. Nun ist freilich dieses Moment-Ich,
das wir unseren Gedanken nennen, nicht
unser All-Ich, unsere Monas oder wie
immer wir unseren beharrenden Wesens-
kern bezeichnen wollen, sondern ist eben
selber ein sich in sich selbst unendlich und
stetig unterscheidender, jener
Heraklits; unsere Individualität
und die Welt-Individualität sind identisch.
Nennen wir letztere Gott oder Gottheit,
so ist die Gottheit in uns Alpha und
Omega aller Mystik.

Wir sind unsterblich, weil wir sind.
Wir sind unendlich, sobald wir dies er-
kennen. Die ganze äußere Welt ist nichts
als die unendlich fortwirkende That ihres
geistigen Bandes, desselben Bandes, das
unsere innere Welt zusammenhält.
Ich muss hier den Anfang des Capitels:
Epimenides aus Carlyles französischer
Revolution citieren:

»Wie wahr, dass in dieser Welt nichts
todt ist, dass das, was man todt nennt,
nur verändert ist, indem die Kräfte ent-
gegengesetzt wirken! Das Blatt, das im
Winde verweht, sagt jemand, hat noch
immer Kraft, denn wie könnte es sonst
verwehen? Unsere ganze Welt ist nur ein
unendliches Getriebe von Kräften, von der
Schwerkraft an bis zu Gedanken und
Willen; menschliche Freiheit, umgeben
von der Nothwendigkeit der Natur (der
Freiheit Gottes); nichts schlummert zu
irgendeiner Zeit, sondern alles ist immer
wach und geschäftig. Etwas, das abge-
sondert, unthätig daläge, wird man nirgends
finden; man suche überall; von dem
Granit-Berg an, der langsam seit der
Schöpfung vermodert, bis zu der flüch-
tigen Wolke, dem lebendigen Menschen,
bis zu der That, dem gesprochenen Worte
des Menschen. Unwiederbringlich fliegt,
wie man weiß, das Wort, das gesprochen
ist; nicht weniger, sondern noch mehr
die That, die geschehen ist. Die Götter
selbst, so singt Pindar, können die ge-
schehene That nicht vernichten. Nein,
was einmal gethan ist, ist für immer
gethan, hinausgeschleudert in endlose Zeit,
und muss hier, entweder noch lange
kenntlich oder bald für uns verborgen,
für immer wirken und wachsen.« — Ich
erinnere an das indische Karma. Indi-
viduum sein heißt Karma sein. — »Oder

was ist die Unendlichkeit der Dinge selbst,
die man Welt nennt, anders als eine That,
eine Totalsumme von Thaten und Thätig-
keiten? Die lebendige, fertige Totalsumme
von diesen Dreien, die keine Rechenkunst
auf ihren Tafeln zusammenaddieren kann,
deren Summe jedoch, wie wir sagen,
sichtbar geschrieben steht, von allem, was
gethan werden wird. Man merke es wohl,
das, was man sieht, ist eine That, das
Product und der Ausdruck angewandter
Kraft; das ganze All ist eine unendliche
Abwandlung des Zeitwortes »Thun«. Ein
unbegrenzter Quell-Ocean von Kraft, von
Vermögen zu wirken, worin die Kraft in
tausend harmonischen Strömungen wogt
und rollt, weit wie die Unermesslichkeit,
tief wie die Ewigkeit, herrlich und schreck-
lich, nicht zu begreifen: das ist es, was
der Mensch Sein und Welt nennt, dieses
tausendfarbige Flammenbild, das, so wie
es sich abspiegelt in unserem schwachen
Gehirn, zugleich Hülle und Offenbarung
ist von einer unendlichen Wohnstätte in
unzulänglichem Licht! Jenseits der Milch-
straße her, von Anbeginn der Tage, rollt
und wogt es um dich her, ja du selbst
bist ein Theil davon in dem Raume, wo
du stehst, in dem Augenblick, den deine
Uhr misst.«

Freilich nicht mit dem bloßen Verstande
will die Weltformel Heraklits, den man
nicht den dunklen, sondern den lichten
nennen sollte, erfasst sein. Das hat wohl
niemand schöner gesagt als ein Dichter,
der nur von Wenigen, von Solchen ge-
kannt und gewürdigt wird, die geistige
Höhenluft lieben: Hölderlin. In seinem
Hyperion schreibt er: »Jenes Wort des
Heraklit () das konnte
nur ein Grieche finden, denn es ist das
Wesen der Schönheit, und ehe das ge-
funden war, gab’s keine Philosophie. Nun
konnte man bestimmen, das Ganze war
da. Die Blume war gereift; man konnte
nun zergliedern. — Man konnte es aus-
einandersetzen, zertheilen im Geiste, konnte
das Getheilte neu zusammendenken, konnte
so das Wesen des Höchsten und Besten
mehr und mehr erkennen und das Erkannte
zum Gesetze geben in des Geistes mannig-
faltigen Gebieten.

Seht ihr nun, warum besonders die
Athener auch ein philosophisches Volk

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 284, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-14_n0284.html)