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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 285

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KUHLENBECK: DAS WELTALL UND DAS INDIVIDUUM.

sein mussten? Das konnte der Ägypter
nicht. Wer mit dem Himmel und der
Erde nicht in gleicher Liebe und Gegen-
liebe lebt, wer nicht in diesem Sinne
einig lebt mit dem Elemente, worin er
sich regt, ist von Natur auch nicht mit
sich selbst einig und erfährt die ewige
Schönheit wenigstens nicht so leicht wie
ein Grieche.

Wie ein prächtiger Despot wirft der
orientalische Himmelsstrich seine Bewohner
mit seiner Macht und seinem Glanze
zu Boden, und ehe der Mensch noch
gehen gelernt hat, muss er knien; ehe er
sprechen gelernt hat, muss er beten; ehe
sein Herz ein Gleichgewicht hat, muss er
sich neigen, und ehe der Geist noch stark
genug ist, Blumen und Früchte zu tragen,
zieht Schicksal und Natur mit brennender
Hitze alle Kraft aus ihm. Der Ägypter
ist hingegeben, ehe er ein Ganzer ist,
und darum weiß er nichts vom Ganzen,
nichts von Schönheit, und das Höchste,
was er nennt, ist eine verschleierte Macht,
ein schauderhaftes Räthsel; die stumme,
finstere Isis ist sein Erstes und Letztes, eine
leere Unendlichkeit, und da heraus ist nie
Vernünftiges gekommen. Auch aus dem
erhabensten Nichts wird Nichts geboren!

Der Norden hingegen treibt seine
Zöglinge zu früh in sich hinein, und wenn
der Geist des feurigen Ägypters zu reise-
lustig in die Welt hinauseilt, schickt sich
der nordische Geist zur Rückkehr in sich
selbst an, ehe er reisefertig ist. — Man
muss im Norden schon verständig sein,
noch ehe ein reifes Gefühl in Einem ist,
man misst sich Schuld von allem bei, noch
ehe die Unbefangenheit ihr schönes Ende
erreicht hat; man muss vernünftig, muss
zum selbstbewussten Geiste werden, ehe
man nur Mensch, zum klugen Manne,
ehe man Kind ist; die Einigkeit des
ganzen Menschen, die Schönheit lässt
man nicht in ihm gedeihen und reifen,
ehe er sich bildet und entwickelt. Der
bloße Verstand, die bloße Vernunft sind
immer die Könige des Nordens. Aber

aus bloßem Verstand ist nie Verständiges,
aus bloßer Vernunft ist nie Vernünftiges
gekommen.« (Vgl. unsere erkenntnistheo-
retische Ouvertüre in IV, Nr. 13.)

»Verstand ist ohne Geistesschönheit,
wie ein dienstbarer Geselle, der den Zaun
aus grobem Holz zimmert wie ihm vor-
gezeichnet ist und die gezimmerten Pfähle
für den Garten aneinandernagelt, den der
Meister bauen will. Des Verstandes ganzes
Geschäft ist Nothwerk. Vor dem Unsinn,
vor dem Unrecht schützt er uns, indem
er ordnet; aber sicher zu sein vor Unsinn
und vor Unrecht ist doch nicht die höchste
Stufe menschlicher Vortrefflichkeit. Ver-
nunft ist ohne Geistes-, ohne Herzens-
schönheit wie ein Treiber, den der Herr
des Hauses über die Knechte gesetzt hat;
der weiß so wenig wir die Knechte, was
aus all der unendlichen Arbeit werden
soll, und ruft nur: tummelt euch und
sieht es fast ungern, wenn es vor sich
geht; denn am Ende hätte er ja nichts
mehr zu treiben und seine Rolle wäre
ausgespielt.

Aus bloßem Verstande kommt keine
Philosophie; denn Philosophie ist mehr
als die beschränkte Erkenntnis des Vor-
handenen. — Aus bloßer Vernunft kommt
keine Philosophie; denn Philosophie ist
mehr als blinde Forderung eines nie zu
endigenden Fortschritts in der Vereinigung
und Unterscheidung eines möglichen
Stoffes. Leuchtet aber das Göttliche
, das Ideal der Schön-
heit der sterbenden Vernunft, so fordert
sie nicht blind, und weiß, was sie fordert.«

Indem wir diese Worte Hölderlins
unter unsere Bausteine aufnehmen, erklären
wir zugleich, dass die wahrhaft heroische
Weltanschauung zugleich die wahrhaft
ästhetische ist. Das Meiste, was wir ferner-
hin in diesen Blättern schreiben werden,
wird zu diesen Worten und zu einem
Gedichte desselben Hölderlin, des »Schick-
sal«, das wir später mittheilen werden,
nur prosaische Paraphrase sein.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 285, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-14_n0285.html)