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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 287

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MAUCLAIR: ÜBER DEN GEGENWÄRTIGEN STAND DER LITERARISCHEN KRITIK.

socialen Wohlthäter entwickeln. Ich
will nur ein Beispiel jüngsten Datums
herausgreifen. Die symbolistische Bewe-
gung hat, nachdem sie zwölf Jahre an-
gedauert, vor kaum drei Jahren ihr Ende
gefunden, und in unklarem Drange wandte
sich die französische Jugend einer Ver-
einigung aller Künste unter dem Einfluss
Wagners und des Internationalismus zu.
Wäre damals ein Kritiker von hohem
Moralsinn aufgestanden, der den unnützen
Streitereien ein Ende gemacht und mit
logischer Gewalt der Verachtung der Kritik
und den Ausfällen der »Jungen« entgegen-
getreten wäre, so hätte er eine der merk-
würdigsten geistigen Bewegungen des
Jahrhunderts festgehalten und vielleicht
zwei bis drei fruchttragende Folge-Erschei-
nungen dieser verheißungsvollen Krisis
gezeitigt. Das wäre eine bedeutende und
segensreiche Rolle gewesen — eine Rolle,
wie sie Heine im zweiten deutschen
Romantismus nach Schlegel und
Tieck
, wie sie Baudelaire, Gautier
und Nerval im Jahre 1840, wie sie
Taine in den Anfängen des Rationalis-
mus, wie sie William Morris in den
Versuchen der Kunstsocialisierung, die auf
die Präraphaeliten folgte, wie sie César
Franck in der symphonischen Schule
nach Wagner spielte. Doch niemand
erschien, der diese Rolle hätte ausfüllen
können, und wenn der Symbolismus Fiasco
gemacht und sich auf einen Cliquen-
Dilettantismus beschränkt hat, während
er zu einer weit größeren That ausge-
zogen war, so sind daran die hartnäckigen
Witzeleien der oberflächlichen Kritiker und
der Mangel an logischem Verständnis
ebensosehr, ja noch mehr schuld, als
die Fehler der Symbolisten selbst. Der
Mann, auf dessen Grabstein man wird
schreiben können: »Seine ganze Thätig-
keit bestand darin, dass er dreißig Jahre
lang jeden Montag erklärte, das Buch ist
etwas wert und das ist nichts wert« —
der Mann verdient wirklich nicht, dass
man sich zu seinen Lebzeiten über ihn
aufregt. Das ist ein Mann, der sich nie
selbst erkannt und, wie fast alle seines-
gleichen, in seinem Schlendrian dahingelebt
hat. Aber ist das der Kritiker?
Nein! Wir fühlen es, das ist er nicht!
Weder Taine, Carlyle, Emerson, Lessing,

noch Nietzsche, noch Baudelaire oder
Mallarmé waren so — in ihnen aber
verkörpert sich die Kritik, die erhabene,
vornehme und nachsichtige Erkenntnis
der menschlichen Ideen
! Es gibt
nur eines: entweder die Kritik dieser
Geistesheroen oder die Mittelmäßigkeit,
von der ich sprach! Man muss dem Jour-
nalismus dankbar sein, dass er die tägliche
Kritik verbannt und sie auf diese Weise
zwingt, sich zu einem höheren und syn-
thetischen Standpunkt zu erheben. Ein
wirklich kritisch veranlagter Organismus
kann sich nicht mehr in hastig zusammen-
geschriebenen Artikelchen zersplittern und
bloßstellen; er muss entweder verstummen
oder sich sofort den hohen modernen
Regionen des Essais zuwenden, dieses
wunderbaren, in Frankreich fast ganz auf-
gegebenen Genres, das der Zwang der
Verhältnisse wieder zu Ehren bringen wird.

Der Essai ist die höhere Form der
Kritik. Er schließt sich direct an die
psychologischen Wissenschaften an, streift
ebensosehr die Poesie wie die Philosophie
und ist der moralische Ausdruck der Künste.
Der Essayist ist der Typus des Gedanken-
menschen, wie ihn die Moderne sich vor-
stellt; das heißt, er trägt in sich selbst
eine Synthese technischer Kenntnisse, die
vollkommen ausreicht, um seine Welt-
Anschauung nach der geistigen Richtung
hin zu vervollkommnen. Der Essayist kann,
durch den vielfachen Zufluss der von den
Temperamenten und den Berufen einer
Literatur zugeführten Schätze, der Weise
sein, der die Reichthümer ordnet, die
Kräfte erläutert, die Begriffe klärt, die
Schätze des Instincts von ihren Schlacken
säubert, die moralische Bedeutung der
Werke bestimmt und die Menschheit auf
die neuen Wohlthaten hinweist, die für
sie aus der menschlichen Arbeit entstanden
sind. Wer wird noch zu behaupten wagen,
dass ein solcher Geist nicht den Schaffen-
den gleichkommt?

Geister wie Faguet begreifen diese
hohe Mission. Sie verstehen diese Krisis
der Kritik „und versuchen selbst in den
zerhackten Feuilletons, die der Journalis-
mus dem Publicum Tag für Tag hin-
wirft, selbst in der Hast der dramatischen
Recensionen, ihre Thätigkeit auf der Höhe
des Essais zu halten. Faguet verdient es

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 287, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-14_n0287.html)