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von unseren Kritikern am meisten, ein
Essayist von hohem Gedankenfluge, ein
trefflicher Rathgeber mit großmüthiger,
umfassender Weltanschauung zu werden.
Auch bei André Hallays und noch bei
einigen seiner Collegen, wie Spronek,
Jules Case, Deschamps, Henry Bauer,
Georges Lefèvre, André Beaunier darf
man eine ähnliche Auffassung annehmen.
Diese flüchten sich aus der Dürftigkeit
ihrer Berufsthätigkeit und verschaffen der
allgemeinen Idee Geltung, sobald sie sich
bei der Besprechung eines flachen Romans
oder einer Posse ein paar Zeilen abzwacken
können. Ihnen müsste man Elite-Schrift-
steller zugesellen, die keine regelmäßige
Kritik treiben, aber sich auf diesem Gebiet
als bedeutende Talente erwiesen haben.
Lion Daudet, der den schönen Band der
»Idées en marche« herausgegeben, mit
»Le Voyage de Shakespeare« den sym-
bolischen Abenteurer-Roman neubelebt
und mit der wunderbaren, nervösen und
packenden »Romance du temps présent«
eine neue Form des sentimentalen Buches
geschaffen, wäre auf dem Gebiete des
neuzeitlichen Romans ein Kritiker ersten
Ranges. Niemand könnte so trefflich wie
die Brüder Rosny — die Verfasser von
»Daniel Valgraive«, der »Impérieuse
bonté« und der »Ames perdues« —
über die Entwicklung der Literatur im
Sinne der Moral und der Menschheits-
Religion sprechen. Paul Adam gibt seit
einigen Jahren, außer der üppigen und
reichen Freske seiner byzantinischen
oder modernen Romane, den Zeitungen
eine »Sittenkritik« und Artikel über
allgemeine Politik, wie über reine Ideologie,
in denen sich eine ganz besondere Be-
gabung für den kritischen Essai kund-
gibt; sein leuchtender Verstand behandelt
alles, und er könnte der vergleichenden
Kritik als Vorbild dienen. Die fremde
Literatur wird von Marcell Schwob in
einer Weise besprochen, wie es nur noch
Mallarmé imstande war. Gustave Geffroy
hat, außer seiner Serie schöner Kunst-
kritiken, mit »L’Enfermé« eine kritische
und historische Monographie von hohem
Werte geschrieben, die einen der schönsten
Essais bildet, die die französische Litera-
tur seit dreißig Jahren hervorgebracht
hat. Bourget wird vielleicht seinen »Essais«
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den bedeutendsten Theil der Achtung ver-
danken, den ihm die wahrhaft Gebildeten
zollen. Jules de Gaultiers Essai über
Kant verräth eine kritische Gewissen-
haftigkeit, der die schönste Zukunft winkt;
dasselbe lässt sich von dem zarten
und gleichzeitig entschlossenen André
Cherriellon sagen. Der Symbolismus hat
bis auf den feinsinnigen und gelehrten
Remy de Gourmont keinen Kritiker her-
vorgebracht. Unter den Jüngeren erweisen
sich Bertrand und Henry Bataille als
fähige Köpfe, die sich der Essai-Literatur
mit Glück zuwenden. Diese Gruppe von
Männern müsste man, unter den Auspicien
einiger unabhängiger Geister, wie France,
Bourget, Huysmans, veranlassen, die hohe
Tradition von Taine, Baudelaire, Emerson
wieder aufzunehmen, die Jury des nationalen
Geisteslebens zu bilden und die fran-
zösische Kritik neu zu erschaffen.
Eine wunderbare Aufgabe wäre ihnen
beschieden. Doch sie müssten jede Ver-
bindung mit den Tageszeitungen abbrechen,
um ihren Stil und ihre Urtheilskraft nicht
in kleinen, hastig dahingeworfenen Artikeln
zu vergeuden, die doch nur in das
Danaïdenfass der Actualität wandern. Sie
müssten in den Revuen oder in einem
Specialorgan, das eine Art handliche Ency-
klopädie bilden würde, die synthetischen
Resultate der zur Literatur beitragenden
Talente veröffentlichen und in den
Büchern die Entwicklungen der großen
menschlichen Gefühle verfolgen. Der Eine
würde die Eifersucht im Roman, der Andere
den Altruismus, der Dritte die neuen Stil-
formen studieren. Anstatt, dass jeder
Artikelsammlungen veröffentlicht, denen
die bedauerlichen Fehler der Tagesarbeit
anhaften, würde eine jede dieser Kritiken
ein vollständiges Capitel eines Essai-
Werkes bilden, das wieder seinerseits die
jährliche Synthese der französischen
Geistesarbeit darstellen müsste. Sie würden
unter den Autoren die Unterhaltungs-
Schriftsteller von denen scheiden, die
wirklich eine vor ihnen noch unbekannte
Idee, Sensation oder Form hervorgebracht.
Sie hätten volle Zeit, einen ersten Ein-
druck zu überwinden, könnten in Ruhe
urtheilen und fehlerfrei den genauen Platz
bestimmen, den ein Autor in einer jähr-
lichen literarischen Bewegung einge-
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