Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 289

Text

BRYK: GENIE UND ANTICIPATION.

nommen. Eine solche, auch aufs Ausland
übertragene Organisation dürfte einen
internationalen Austausch klarer, gedanken-
reicher Bücher hervorbringen, die zur Be-
reicherung der Bibliotheken dienen und
neben der thatsächlichen Bibliographie ein
geistiges Memento ersten Ranges bilden
würde.

Das wäre eine Aufgabe für die lite-
rarischen Akademien; doch müssten sie
zu diesem Zwecke zuerst von dem mani-
rierten und rückständigen Geiste befreit
werden, der zum Beispiel unsere Akademie
hindert, für die Literatur nützlich zu
wirken. Diese schöne, internationale Rolle
wäre für die Akademie der Wissenschaften
wie geschaffen, wenn sie von einem
Tribunal vorurtheilsloser Männer in An-
wendung gebracht würde. Auf diese Weise
könnte man die Nationalkritik einführen,
die mit klarer Deutlichkeit für die Qualität,
die Mission und die Entwicklung unseres
Geisteslebens vor dem Ausland einstehen
müsste. Zu diesem Zwecke aber wären

erst die letzten Bande zu zerreißen,
die den Kritiker an den Journalismus
fesseln, das heißt seine Mission herab-
würdigen, ihm einen unmittelbaren Arbeits-
wert verleihen und in Bezug auf seine
Stellung das ewige Missverständnis fort-
pflanzen, dass die Kritik (wie der Roman
oder das Theater) ein »Erwerbszweig«
und kein »innerer Beruf« ist. Gerade,
weil heutzutage alle Irrthümer und alle
Enttäuschungen der gewerbsmäßigen Kritik
zutage treten, gerade darum drängt sich
die Nothwendigkeit auf, sie als einen un-
eigennützigen Beruf zu betrachten. Darin
liegt ihre moralische Aufgabe; da verliert
sie alle Unzuträglichkeiten der scholastischen
Pedanterie; da enthüllt sie sich als edle
Verkörperung eines der wunderbarsten
Vorrechte des französischen Genies: als
die logische und wohlthätige Erleuchtung,
als die Umwandlung von Idee und Kraft,
als die erhabene Alchymie, die das rohe
Mineral des Gedankens in lauteres Gold
verwandelt.

GENIE UND ANTICIPATION.
Von OTTO BRYK (Wien).

Das wundervolle Schauspiel der An-
passung, das die Natur alltäglich und
allstündlich vor unseren Augen aufführt,
hat lange allen Erklärungsversuchen ge-
trotzt. Endlich hatte Kant in der Kritik
der Ideologischen Urtheilskraft das
Wunder erkenntnistheoretisch auf seine
subjectiven Elemente zurückgeführt und
Schopenhauer in seiner grandiosen Lehre
vom Instincte das Problem zu jenem
höchsten Grade der Deutlichkeit gebracht,
dessen die Erklärung eines durchaus meta-
physischen Sachverhaltes überhaupt fähig
ist. Wenn Kant in seiner merkwürdig
mystisch-klaren Denkart sich zufrieden-
gestellt hatte, das Intellectuelle in der
Function der Zweckerkenntnis zu ent-
wickeln, so war für Schopenhauer der

Schritt zum Metaphysischen von selbst
gegeben. Ein zeitloses Wesen bringt die
Natur hervor; die unendliche Mannig-
faltigkeit von Absichten und Zwecken
liegt — außerhalb der Zeit — in diesem
Wesen beschlossen und enthüllt sich
unserem, an die Zeitfunction unauflöslich
gefesselten Intellect in der Succession.
Die moderne Naturwissenschaft, die die
Anpassung und das Morphologische durch
mechanistische Contactwirkung zu erklären
versucht, gelangt auf diesem Wege nur
zum Verständnis der gröbsten Vorgänge
und Zusammenhänge.

Diese Erwähnungen müssten voraus-
geschickt werden, weil sich die Theorie
der genialen Production naturnothwendig
auf sie stützt. Man hat bisher den Begriff

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 289, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-14_n0289.html)