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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 290

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BRYK: GENIE UND ANTICIPATION.

des Genialen mehr vom Metaphysisch-
Kosmologischen untersucht, als hinsichtlich
des Functionalen. Was bisher von biolo-
gischer und sociologischer Seite über das
Geniale veröffentlicht worden ist, betrifft
entweder zunächst die Physiologie des
Genies (auf welchem Gebiete übrigens
bereits Schopenhauer reiches Material zu-
sammengetragen hatte) oder hochinter-
essante, aber ohne leitenden Ausgangs-
punkt zusammengestellte biographische
Theilbilder. Dies hat seinen Grund in der
rüden Starrköpfigkeit des gegenwärtigen
Zeitalters, welches nicht begreifen will,
dass jedes Object seinen eigenen Stand-
punkt des deutlichsten Sehwinkels besitzt.
Die Functionen des genialen Gehirns
stehen eben ganz außerhalb der Begriffs-
welt des Normalgehirns; sie sind die weiter-
gehenden, tiefer greifenden und breiter
umspannenden Anschauungsarten, von
denen aus der Mechanismus der normalen
Gehirnthätigkeit leicht erfasst wird. Das
Wesen des Genialen vollkommen zu er-
fassen vermag daher nur das Genie selbst;
aber auch der höher geartete, sensitivere
Normal-Intellect ist imstande, sich darüber
Klarheit zu verschaffen, wenn er nur ehrlich
bestrebt ist, sich zum Höheren hinauf-
zuschwingen und nicht trotzig dabei ver-
harrt, von seiner Welt aus eine höhere
begreifen zu wollen.

Das typisch-geniale Vermögen ist die
Intuition. Es ist das Vermögen, erkennend
anzuschauen, die getrennten Fähigkeiten
der Anschauung und des Erkennens in
einem Bewusstseinsacte zu vollziehen.
Aber die Intuition allein bedingt noch
nicht die Vollkommenheit der genialen
Production. Sie kann sich einstellen und
kann passiv dem genialen Individuum auf-
bewahrt werden. Erst wenn die Intuition,
nach außen geworfen, objectiven Charakter
annimmt, spricht man vom genialen Werke.
Die Synthese einer Reihe von genialen In-
tuitionen unter einem organischen Schema,
in der Form einer äußerlich und inner-
lich bedingten Structur bedeutet erst das
Kunstvolle, das Kunstwerk, mag in diesem
der Begriff oder die Anschauung (als Aus-
drucksmittel) überwiegen. Für die Dispo-
sition der einzelnen intuierten Vorstellungen
in organischer Form bedarf aber der
geniale Intellect eines zweiten vollziehen-

den Vermögens, welches, da es nach Zweck-
gedanken fortschreibt, nothwendig von der
Zeit befreit ist und darum als das voraus-
nehmende Vermögen richtig durch das
Wort Anticipation bezeichnet wird. Der
Charakter der Anticipation soll nun näher
betrachtet werden.

Die Welt als Erscheinung ist eine
Function von fünf Unveränderlichen: der
drei Abmessungen des Raumes, der Zeit
und des Empfindungsinhaltes; die ersten
vier Coordinaten sind Größen extensiver,
die letzte ist eine Größe intensiver Art.
Aus dieser Inhernogenëität folgt, dass sich
stets nur eine dieser fünf Größen durch
die vier anderen darstellen und erklären
lässt. Darüber hinaus hat die Einführung
neuer Veränderlicher keinen Sinn, weil
das Metaphysische, das den Erscheinungen
zugrunde liegt, diese auch hervorbringt,
mithin von diesen nicht abhängt. Dennoch
hat es sich im Laufe der wissenschaft-
lichen Entwicklung gezeigt, dass die Ein-
führung neuer Unveränderlicher wenn auch
nicht erklärenden, so doch hohen, be-
schreibenden Wert besitzt. Es darf hier
auf die Einführung einer vierten Raum-
abmessung aufmerksam gemacht werden,
die eine großartige Vereinfachung aller
Raumtheorien und eine hohe Verallge-
meinerung in dem rallativischen Theile
unserer Erkenntnislehre zur Folge hatte.
Hieher gehört auch Lagranges Auffassung
der Zeit als vierter Unveränderlicher und
die Erweiterung des Größenbegriffes zur
allgemeinen Gauß’schen Größe. Alle diese
mathematischen Hilfsbegriffe, die selbst
wieder genialen Gehirnen entstammen,
sind zunächst bloß Vehikel der Forschung
— für das normale Operieren geschaffen.
Damit steht ja doch nicht im Wider-
spruch, dass einzelne sporadisch einer
Erweiterung ihres Anschauungsvermögens
theilhaftig werden, durch welche diese
hypothetische Annahme Realität wird.

So sind auf dem Gebiete der sinn-
lichen Wahrnehmung Erweiterungen des
Sinnenfeldes in Zuständen abnormaler
physiologischer Constitution beobachtet
worden. Bekannt ist, dass Somnambule
mit geschlossenen Augen lesen können,
dass stark magnetische Menschen die Pole
eines Elektromagneten im Dunkeln leuchten
sehen und dass wir im Opiumrausch das

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 290, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-14_n0290.html)