|
Sonnenspectrum weit über den sonst un-
sichtbaren Theil hinaus von (unbestimm-
barer) Farbe erfüllt sehen. Freilich be-
zieht sich dies alles nur auf das subjective
Element der Perception. Doch sind auch
Thatsachen mediumistischer Einwirkungen
bekannt, die seitens der wirkenden Wesen
die Bethätigung in einem vierdimensionalen
Kraftfeld zur nothwendigen Voraussetzung
haben. Nach diesen Bemerkungen wird
es nicht unwissenschaftlich erscheinen,
wenn ich zur Erklärung der genialen
Production eine Hilfsvorstellung heran-
ziehe, welche eine Erweiterung des Ver-
änderlichkeitsbezirkes unserer Erkenntnis
zur Folge hat. Es ist dies die Annahme
einer Zeitachse, welche auf der horizontal
gedachten Zeitachse der Sinnlichkeit senk-
recht steht.
Durch diese Hypothese ist zuförderst
empfindungsanalytisch nichts Neues postu-
liert worden, denn in der Empfindung
besitzen wir keine Zeitlinie, sondern nur
einen der Gegenwart entsprechenden Zeit-
punkt. Das Hinzutreten einer zweiten, auf
der ersten senkrecht stehenden Zeitachse
bedingt vorderhand nichts anderes als einen
Schnittpunkt, der selbstverständlich nur
der Gegenwartspunkt sein kann. Die
Zeitlinie hat nur constructiven Wert; nun
schreibe ich der verticalen Zeitaxe eben-
falls nur constructive Bedeutung zu. Aber
man sieht leicht, dass die Zeitlinie jetzt
zu einen Zeitfeld wird und dass die An-
zahl der möglichen Combinationen zwischen
den einzelnen Zeitelementen gegenüber
der Annahme einer einzigen Zeitlinie
quadratisch gewachsen ist. Hiemit wäre
der genialen Production nicht viel ge-
wonnen. Aber belangvoll dürfte es sein,
dass dem zeitlich zweidimensional be-
trachtenden Genie eine von Zeitinhalt er-
füllte Zeitstrecke zu Gebote steht, die den
normalen Zeitverlauf nicht stört, also in
voller Continuität mit der nor-
malen Zeitstrecke coexistiert.
Aus der nicht gar reichhaltigen
Sammlung der zu Gebote stehenden auto-
biographischen Aufzeichnungen sei bei dieser
Gelegenheit eine Stelle aus einem Briefe
Mozarts an seine Schwester angeführt, in
welchem er erwähnt, dass er die Fuge zu
einem Präludium zur selben Zeit im Kopfe
ausgearbeitet habe, in der er das Präludium
|
niederschrieb; man kann zwar hier ein-
wenden, dass das Präludium lange vorher
ausgearbeitet war und das mechanische
Aufschreiben des Präludiums nichts anderes
war als das Ablaufen des aufgezogenen Tele-
graphenapparates, ein — nebenbei bemerkt
—genug seltsamer Vorgang. Aber abgesehen
davon, dass Mozart ein viel zu unmittelbar
producierender Künstler war, als dass er
seine Werke stets glatt poliert in der
Schädelkapsel mit sich geführt hätte, lässt
sich ein zweiter Ausspruch Mozarts als
unterstützender Beleg für diese Hypothese
anführen. Nach der G-moll-Symphonie —
schreibt er in prächtig naiver Psychologie —
sei ihm die ganze Symphonie »auf einmal«
ganz klar vor Augen getreten, also offenbar
als zeitliches Continuum, das scheinbar in
den Gegenwartspunkt zusammengezogen
war.
Auch das Wesen der polyphonen Musik
wird leichter verständlich, wenn man sich
für einen Augenblick an die Hypothese
einer, unabhängig von der wirklichen Zeit-
linie, mit ihr starr verbundenen, zweiten
Zeitachse halten will. Sonst entzieht sich
die Thatsache der Erklärung, dass es
möglich ist, ein Thema derart zu con-
struieren, dass es nach Ablauf längerer
Zeitperioden regelmäßig in organischen
Folgebezug zu sich selbst oder anderen
Thematen treten kann.
Die eben angeführten zwei Beispiele
sind absichtlich dem musikalischen Schaffen
entlehnt worden, weil das Wesen der Anti-
cipation hier auf die zeitlichen Verhältnisse
rein beschränkt bleibt. Die anderen Künste,
die Wissenschaft entlehnen ihren Stoff der
Außenwelt, wirken auf diese zurück. Sie
können daher die Intuition nicht in diesem
Maße entbehren, wie die Musik, bei welcher
die Intuition durch die Anticipation geradezu
ersetzt wird.
Was die Anticipation für den Ablauf
in der Zeit leistet, das bedeutet die In-
tuition für die Anschauung im Raume.
Im intuitiven Acte erblickt das Genie das
Ding über alle Zeiten hinaus als Proto-
typen der Wirklichkeit, mit einemmale,
also wiederum längs der ganzen Zeitstrecke
in den untheilbaren Gegenwartspunkt
zusammengezogen. Würde dieser Vorgang
sich nur über die Vergangenheit erstrecken,
so wäre die Intuition nur eine Recapitu-
|