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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 292

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BRYK: GENIE UND ANTICIPATION.

lation des Geschehenen, also etwa von
der Art einer sehr lebhaften Erinnerung.
Sie erstreckt sich aber auch auf das Zu-
künftige und diesbezüglich bedarf es noch
einer Erläuterung. Nach dem Gesetze der
physischen Continuität und intellectuellen
Causalität ist das Zukünftige jeden Augen-
blick durch das Gegenwärtige determiniert.
Es kann nicht anders geschehen, als es
geschehen wird, so dass auch dem Nicht-
Genialen auf Grund des bloßen Causalitäts-
gesetzes die ganze Zukunft erschlossen
sein müsste, wenn nicht die unendliche
Vielfachheit von Beziehungen gleichsam
optisch den Durchblick auf das bestimmte
Ereignis erschwerte. In diesem Sinne
kann man sich das Object, dessen zu-
künftige Gestaltung man anschauen
möchte, symbolisch als hinter einer
undurchsichtigen Wand oder Masse vor-
überziehend denken, derart, dass nur
das eben (in der Gegenwart) hervor-
tretende Gebiet wahrgenommen wird. So
zieht langsam Stück für Stück hinter
dem Massiv hervor, aber man könnte jedes
beliebige Stück augenblicklich erkennen,
wenn die vorlagernde Masse durchsichtig
wäre. Man kann dieses Bild direct in die
Wirklichkeit übertragen, und hat hierzu
nur nöthig, sich eine außerordentlich lange
Reihe von Phänomenen hinter einer sehr
beträchtlich breiten Masse zu denken, die
jederzeit — vielleicht durch einen chemi-
schen Process — durchsichtig und wieder
undurchsichtig gemacht werden kann.
Den chemischen Process des Durchsichtig-
machens vertritt in der Anschauung der
intuitive Act des Genies; nur muss man
jetzt von der außerordentlich langen Phä-
nomenen-Reihe zur mathematisch-unend-
lichen aufsteigen. Es war ein intuitiver
Act, als Hauy, der sich nie mit Krystall-
bildung beschäftigt hatte, zufällig auf einem

Spaziergang ohne alles Nachdenken das
Gebäude der sechs krystallographischen
Systeme erblickte; es war vollendete In-
tuition, als Goethe auf der italienischen
Reise das Bild seines Ur-Organes er-
schaute
. Es war Anticipation, als ihm
im selben Augenblicke die dynamische Be-
stimmung der morphologischen Elemente
begrifflich klar wurde.

Contraction der Anschauungen längs
der normalen Zeitachse wäre also Intuition,
Contraction der dynamischen Motivierungen
längs der auf ihr normalen Zeitlinie der
Anticipation. Die Anticipation wirkt dis-
ponierend
, das von der Anschauung
Gelieferte nach dem beabsichtigten (ästhe-
tischen oder wissenschaftlichen) Zwecke in
Zusammenhang bringend, die Intuition
wirkt nicht, sie schaut. Die Anticipation
erzeugt die Form, die Intuition die Typen
des Kunstwerkes. Durch den Gegenwarts-
punkt fest verbunden, kann nie das eine
Vermögen ohne das andere auftreten, und
eben deshalb trägt jedes Kunstwerk die
Charakteristica beider Verknüpfungsarten
an sich. Nur in den beiden Grenzfällen
reiner Formkunst (Ornamentale Musik
und tektonische Architektur) wird die In-
tuition einmal Anticipation und umgekehrt.
Die complicierten Werke der Kunst und
das wissenschaftliche Kunstwerk enthalten
und enthüllen beide Vermögen: Das Drama,
das philosophische System schreiten über
intuitiv geschaute Typen (Charaktere) anti-
cipatorisch fort.

»Wer Schranken denkend setzt, die nicht vor-
handen,
Und dann hinweg sie denkt, der hat die Welt
verstanden«. (Rückert.)

So schließt das Genie durch seine Art,
zu schauen und zu denken, den Ring
zwischen der Natur und dem ihr ent-
fremdeten Menschen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 14, S. 292, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-14_n0292.html)