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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 300

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PSYCHOGRAPHOLOGIE.
Von CARL VICK (Graz).

Den Namen Psychographologie bildete
der in Augsburg thätige Psychographo-
loge P. P. Liebe. Er bezeichnet mit ihm
die Anwendung der Psychometric und
der Graphologie als combiniertes metho-
disches Verfahren auf die Ergründung des
Charakters. Graphologie ist Handschrift-
deutung mit dem Ziel: Charakterdeutung.
Psychometric ist ein Wissen, welches die
ausgebildete besondere Veranlagung eines
Menschen — sein sensitives Vermögen —
von Dingen in der Ferne ohne wahrnehm-
bare Verbindung mit denselben ermöglicht.
Wenn die Graphologie als an das Sicht-
bare sich haltende Wissenschaft auf dem
Wege des Vergleichens der Schriftzeichen
dem zu erkennenden Charakter beikommt,
so vermittelt die Psychometric im Gegen-
satz zur Graphologie durch die unmittel-
bare Anschauung eines inneren Sinnes
die Erkenntnis ihres Objectes. Die Psycho-
metric erzielt in ihrer Vereinigung mit der
Graphologie eine über das graphologische
Ermitteln hinausgehende Charakterzeich-
nung.

Von dem einfach-graphologischen Ver-
fahren unterscheidet sich das psychogra-
phologische darin, dass im letzteren die
graphologischen Resultate lediglich der
psychischen Kraft ihr Mittel, der sensi-
tiven Wahrnehmungsfähigkeit ihre Grund-
lage geben. Obwohl das Verfahren gra-
phologisch und insoweit in Regeln und
Formen einkleidbar ist, sagen diese jedoch
nicht wie in der sich selbständig stellenden
Graphologie auch für die Psychographo-
logie den Endsatz, das gesuchte Resultat
aus; vielmehr entwickelt das Verfahren
seine Resultate aus dem graphologischen
vermittelst einer psychischen Kraft. Die
Psychographologie steht nach Methode
und Resultaten durchaus isoliert; sie ver-
mindert den Eigenwert der Graphologie,
sie gibt den psychometrischen Erfahrungen
ein neues Mittel. Wenn sensitive Wahr-
nehmung bisher zumeist an den somnam-

bulen Schlaf und an die innere Aufmerk-
samkeit gebunden war, so steht dem ent-
gegen, dass im Falle des Psychographo-
logen das sensitive Erkennen des Charakters
weder an einen halbwachen Zustand, noch an
ein Berühren des gegebenen beschriebenen
Papieres gebunden ist, dass vielmehr ein
reiner Beobachtungs- und Denkprocess —
die graphologischen Resultate — das
psychische Fernempfinden auslöst. Es
ist demnach das Verfahren den wenigen
Fällen des Hellsehens ähnlich. Jedoch nicht
nur dem Hellsehen, sondern auch der
künstlerischen, insbesondere der poetischen
Intuition ist es ähnlich; denn es liegen
ihm gleich dieser von dem Bewusstsein
erfasste, an sich erkennbare Mittel zu-
grunde, welche von einer nicht erkenn-
baren, aus dem Unbewussten stammenden
Kraft dazu benützt werden, Resultate zu
erzielen, welche ohne diese Kraft aus den
Mitteln an sich nicht abzuleiten wären.

In der Demonstration des Verfahrens
liegt auch seine Rechtfertigung. Es sendet
jemand ein beschriebenes Papier zu Händen
des Psychographologen. Die Antwort ent-
hält nicht, wie er etwa nach der bekannten
Darstellungsweise der Graphologie erwarten
mag, in großen Zügen aufgezählt, ob der
Schreiber gesund, ob er krank, ob er
leidenschaftlich oder gleichgiltig, jähzornig
oder friedlich, offen oder heimlich ist,
sondern sie enthält die Geschichte seines
Lebens. Während der Graphologe auf
die allgemeinen Urtheile, auf die des
Temperaments, des Intellects, der Moral
und die der Pathologie sich beschränkt,
deckt der Psychographologe das Besondere
auf. Er zeigt zunächst die Verbindung
der Charakter-Eigenschaften untereinander
und ihre Werte gegeneinander, bestimmt
deren zeitliche Reihenfolge, in welcher die-
selben dem Charakter sein vernehmlichstes
Gepräge verleihen, sowohl in die Ver-
gangenheit rückwärts, als auch vorwärts
in die Zukunft; zuletzt beschließt er seine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 300, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0300.html)