|
Aussage mit der Enthüllung dessen, was
der Mensch geneigt ist, vor sich und
anderen in seinem Inneren zu verbergen;
das letztere noch schärfer ausgedrückt:
er legt frei, was der Mensch von sich
selbst erhofft, ersinnt, träumt, wünscht
oder möchte — heute wie gestern und so
morgen.
Indem in der Psychographologie die
Wirkungsweise psychischer Kräfte demon-
striert wird, erhebt sie dieselbe in die
Fassbarkeit des Bewusstseins und löst sie
von der bloßen Erfahrung der Personen
ab. Vor allem rechtfertigt sie das
Sensitive gegen alle Angriffe. Selbst-
erkenntnis, Erkenntnis, alles echte Wissen,
welches wert ist, gewusst zu werden,
entstammt allein dem der menschlichen
Einsicht so sehr verschlossenen Gebiete
des Unbewussten.
Und lass’ dir rathen:
Habe die Sonne nicht zu lieb
Und nicht die Sterne.
Komm’, folge mir ins dunkle
Reich hinab!«
Weil die Psychographologie in die
Tiefen des Nichtgewussten ihre Wurzel
senkt, verbindet sich mit ihr über ihren
Zweck hinaus allgemein eine Veredlung
des menschlichen Denkens. Indem sie den
Grund des Charakters entziffert, gibt sie
die Handhabe für ein gerechtes Urtheil.
Sie widerspricht dem Glauben, dass es
möglich sei, vermittelst Beobachtung allein
das Wesen des Charakters zu erfassen.
Sie zeigt die Grenze, bis wohin unsere
Augen zu dringen vermögen; von wo ab
sinnfällige Kräfte über die Dinge stumm
bleiben; sie rettet jedem Menschen seinen
tieferen Inhalt.
Das Urtheil des Psychographologen
bewegt sich zunächst in drei Richtungen,
ehe es aus diesen drei Richtungen als
ein einheitliches Ganzes hervorgeht. Sein
erster Gegenstand ist die Erscheinungs-
form, in welcher der zu beurtheilende
Mensch im Augenblick der beobachtenden
Aufnahme dieser gegenübersteht; sein
zweiter Gegenstand, das »Woher« und
»Wohin« dieser Erscheinungsform; sein
dritter die Erwägung einer möglichen
Änderung des »Wohin«. Die Erscheinungs-
form, das Augenblicksbild ist der sich
ihrer selbst bewussten Beobachtung zu-
|
gänglich. Die Fragen jedoch, welche Ur-
sachen die Erscheinungsform bestimmt
haben und in welcher Richtung die
letztere sich vorwärts bewegen wird,
können nur dann gelöst werden, wenn die
Verhältnisse untereinander der die Er-
scheinungsform bestimmenden Kräfte nach
Größe und Bewegungsrichtung erkannt
worden sind. Ein Beispiel aus der
Astronomie mag der Verdeutlichung dienen.
Die Bestimmung eines Sternortes ist solange
nicht möglich, als nur das Resultat ein-
maliger Beobachtung vorliegt; erst mehrere
Beobachtungen lassen einen Schluss zu
auf die Bahncurve und möglicherweise,
nach weiterer Bestimmung der Entfernung
von anderen Sternen, auch den Schluss
auf seine Masse und anderes. So wenig
zu astronomischen Bestimmungen eine
einmalige Beobachtung genügt, obgleich
in derselben alle zur Bestimmung nöthigen
Größen latent enthalten sind, das Augen-
blicksbild auch Gefäß der es bildenden
Ursachen ist, ebensowenig genügt zur Be-
stimmung der Ursachen der Erscheinungs-
form eines Menschen die beobachtete
Erscheinungsform selbst; jedenfalls aber
liegen die sie bildenden Größen latent in
derselben. Die Charakteristik des Menschen
müsste demnach aus mehreren zeitlich
sich folgenden, erschöpfenden Beobach-
tungen der Erscheinungsform sich ergeben,
wenn diese untereinander durch eine Kette
von Ursache und Wirkung verbunden
wären. Das sind sie aber nicht. Erschei-
nungsformen sind nach außen geworfene
Producte eines inneren Vorganges, stehen
nebeneinander ohne gegenseitige Berührung
und zeigen ursächlich nicht aufeinander,
sondern stets auf den inneren Vorgang.
Die Beobachtung einer oder mehrerer
Erscheinungen führt deshalb nicht in das
Wesen des Menschen hinein; sie gewährt
keine Charakteristik, wohl aber zeigt der
Charakter der Erscheinungsform wie der
Eingang zu einem Hause auf den Weg
zu den Wohnräumen und den Bewohnern
dieses Hauses. Die in der Erscheinungs-
form oder Stabilität eines Menschen beob-
achtete Kräfteconstellation gestattet sehr
wohl, auf das Ganze seiner Psyche zu
schließen, jedoch nicht mehr mittelst be-
wussten Denkens, sondern vermittelst
psychischer Kraft. Den Charakter erfassen
|