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heißt nicht den Charakter der Erscheinungs-
form erfassen, sondern jenes Centrum,
welches die Erscheinungsform nach außen
projiciert. Ist aber dieses erkannt, so liegt
keine Schwierigkeit vor, weiter auf die
Summe von Kraftconstellationen und deren
Erscheinungsformen, welche der Psyche
zustehen, zu schließen. Der Psychographo-
loge, der sich in zweiter und dritter
Richtung mit der Ursache und mit der
Veränderungsmöglichkeit der Erscheinungs-
form beschäftigt, legt mit Recht auf die
psychische Seite dieser Frage das Haupt-
gewicht — die Seele kann nur von der
Seele verstanden werden. Dass aber das
Vermögen, sich der Seele zu nähern, die
psychische Kraft des Psychographologen,
nicht Sensitivität schlechthin ist, dass
die Frage, in welcher Weise eine Er-
scheinungsform zurücktreten und dafür
anderen und welchen anderen Platz machen
kann, nicht aus sensitiver Begabung allein
ihre Beantwortung hervorholen kann, mag
hier zunächst der Umstand darthun, dass
alle Erkenntnis umgewandelte That ist.
Die Reihe der Stabilitäten, aus welchen
der Mensch wiederzuerkennen ist, ist un-
begrenzt. Sei es eine That, sei es ein
Gedachtes, ein Gedanke, sei es eine
Geberde oder sei es die photographische
Aufnahme eines Menschen, seien es die
Linien in seiner Handfläche, sei es seine
Physiognomie oder seine Handschrift; in
allen Bewegungen, in allem Thun schlägt
sich die Wesenheit des Menschen nieder.
Der Mensch erzeugt Stabilitäten, d. h.
unveränderliche, dauernde, unauflösbare
Zeichen und Denkmale dessen, was er
ist. Nicht alle sind dem Auge zugänglich:
That, Gedanke, Geberde treten in den
Hintergrund; aus der Physiognomie ein
festes Ganzes herauszulesen, ist nur
wenigen Menschen gegeben; dagegen die
Photographie, Handlinien und die Hand-
schrift unterliegen, weil sinnfällig, zu jeder
Zeit und an jedem Orte der Möglichkeit,
sie zu prüfen. Das allgemeinste Mittel,
Schlüsse auf den Charakter zu ziehen, ist
jedenfalls die Handschrift. Daran kann
auch wenig ändern, dass eine Person
mehrere Handschriften oder mit verstellter
Schrift schreibt; die graphologische Summe
der einen Handschrift ist der grapho-
logischen Summe der anderen gleich.
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Da sie jedoch ihrer Natur nach
analytisch ist, kann sie niemals zur
Synthese kommen, d. h. sie kann wohl
die Stabilität der Schrift zergliedern, doch
niemals aus den gewonnenen Resultaten
das zutreffende Charakterbild entwerfen.
Der graphologischen Untersuchung liegen
die allgemeinen Urtheile zugrunde, nach
welchen man den Menschen schätzt. Mag
nun dem Menschen nach moralischen
Gesichtspunkten eine moralische Qualität
oder nach dynamischen ein Kräfteverhält-
nis beigelegt werden, immer werden diese
allgemein gebräuchlichen Werte diejenigen
sein, zu welchen die Graphologie in der
Handschrift Beziehungen sucht und findet.
Der Wert eines graphologischen Urtheils
beruht also auf dem Wert des allgemeinen
Urtheils. Graphologische Synthese ist
gefahrvoll; indem moralische Qualitäten
in die graphologische Methode eingeführt
und beziehentlich in der Handschrift
wiedergefunden werden, liegt ihnen der
Schein von Elementen des menschlichen
Charakters bei, sind also als Einheiten,
unveränderliche Elemente der Charakter-
Erkenntnis zu nehmen und werden als
solche indiscutabel. Die Charakter-Erkennt-
nis wird in einem Kreis herumgeführt,
solange man bei der Stabilität stehen
bleibt.
Ein Geschehnis ist das Resultat mit-
einander coordinierter moralischer Eigen-
schaften. Die Coordination moralischer
Qualitäten, die in der Erscheinungsform
des Menschen hervortritt, bestimmt coor-
dinierend mögliche Handlungen. Ein
Charakter, der in einer Reihe von Hand-
lungen sich documentiert, documentiert
damit zugleich die Coordination seiner
moralischen Qualitäten. In diesem Sinne
war die moralische Qualität die Wurzel
des Charakters. Die Charakter-Beurtheilung
bewegte sich in den Adjectivis: »stolz,
ehrlich, gütig« und ähnlichen, sowie in
deren Gegenüberstellungen.
Als man jedoch später fand, dass der
Charakter nicht allein ein Product mora-
lischer Qualitäten sein könne, wandte man
sich jener Denkweise zu, welche den
Charakter Ausdruck einer Summe quanti-
tativer Kraftgrößen sein ließ. Der Mensch
galt als das Product der Verhältnisse.
Man folgerte: die quantitative Größe gilt
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