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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 303

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VICK: PSYCHOGRAPHOLOGIE.

sowohl positiv, als negativ; positiv als
Energie, negativ als Widerstand. Eine
Handlung ist demnach der Ausdruck der
negativen oder positiven Neigung einer
Kraftgröße. Mangel an Widerstandskraft
oder Überschuss an Energie rufen die
Extreme des menschlichen Charakters
hervor, dessen moralische Makellosigkeit
auf dem Gleichgewichte der Kräfte beruht.
In diesem Sinne galt der Kraftfactor —
das Dynamische — als Wurzel des Cha-
rakters. Die Charakterbeurtheilung bewegte
sich in den Adjectivis: »klug, logisch, ge-
sund« und ähnlichen, sowie in deren Gegen-
überstellungen.

Das neuzeitliche Denken setzt folgender-
maßen ein: Der Charakter der Erschei-
nungsform ist nicht der Charakter an
sich; er ist die von verschiedenen Bedin-
gungen abhängige Modification des Cha-
rakters an sich. Der wahre Charakter
ist quantitativ und qualitativ einheitliche
Größe, die durch Verminderung oder Ver-
mehrung nichts von ihrer Einheitlichkeit
verliert; er besteht deshalb in der Ziel-
kraft des Individuums auf die unendliche
Erweiterung seiner selbst, in der Zielkraft
auf die Unendlichkeit. Die Projection nach
außen des Charakters an sich, welche
der Charakter der Erscheinungsform ist,
ist deshalb in ihrer Summe der Ausdruck
dieser Zielkraft und in ihren Eigenschaften
das Mittel, diese Zielkraft zu erhalten
und zu erweitern. Die Differenz der
Erscheinungsformen untereinander ist des-
halb solange moralischer Natur, als die
Zielkräfte der Charaktere different sind;
sie ist dynamischer Natur, soweit der
Charakter an sich aus jeglicher Differenz
herausstrebt. Die Ziel- und Triebkraft
des Charakters, der transcendentale Über-
mensch, ist nunmehr die Wurzel des
Charakters; sie gibt die absolute Differenz
auf das Ziel Unendlichkeit, die effective
Differenz auf die Individuen. Hieraus ist
ersichtlich, dass Graphologie nur ana-
lytisch sein darf; dass zur Synthese
psychische Bethätigung gehört und im
weiteren: dass jede künstlerische Thätig-
keit darauf beruht, aus Zielkräften der
Charaktere an sich deren gemeinsame
Wurzel aufzufinden.

Die Psychographologie ist im eigent-
lichen Sinne Experimental-Wissenschaft;

indem sie als Theil der Psychometric
die experimentelle Grundlage gibt, gibt
sie der gesammten Psychometric den
Wegweiser, nach welchem derselben der
Weg aus mystischem Versteck offensteht
in die Sichtbarkeit. Sie definiert Sensitivität
als das Auge, psychische Kraft als die
Vermittlerin psychischen Wissens. Das
Mittel, psychische Kraft in Thätigkeit zu
setzen, ist das Mitleben; dieses ist das
Herausstreben des Charakters an sich aus
jeglicher Differenz (zugleich Quelle der
dynamischen Eigenschaften der Erschei-
nungsform).

Doch auch ein rein äußerlicher Schluss
rechtfertigt die Psychographologie für das
sinnliche Auge und verdeutlicht die Existenz
einer psychischen Kraft. Ist ein Product
mehrerer Factoren auf seine Wahrheit
controlierbar, so kann man den Factoren,
falls das Product wahr ist, innere Wahr-
heit nicht absprechen. Die psychographo-
logische Aussage, weil der künstlerischen
Aussage verwandt, trägt die Merkmale
ihrer Wahrheit gleich jener in sich selbst.
Zwei der die Aussage bildenden Factoren
sind von vornherein als wahr bekannt:
die Handschrift als Gegenstand und die
graphologische Analyse als erstes Mittel.
Zwei Factoren enthalten innere Wahrheit;
ist nun das Product wahr, so gilt das
gleiche auch von dem dritten Factor: von
der psychischen Kraft. Das Vorhandensein
und die innere Wahrheit der psychischen
Kraft wird gerechtfertigt durch das psycho-
graphologische Resultat, welches wahr ist.

Die Gewissheit, dass im psychographo-
logischen Verfahren eine psychische Kraft
von der Erscheinungsform rückwärts auf
den Charakter an sich, die Zielkraft des
Individuums, hinübergreift, lässt der anderen
Gewissheit Raum, dass das verbindende
Glied zwischen dem Charakter an sich
und seiner Erscheinungsform psychische
Kraft ist. Gieng die psychische Kraft
ursprünglich vom centralen Punkt des
Charakters an sich aus und projicierte
denselben flächenartig als Stabilität, so
geht sie nunmehr von der Stabilität aus
rückläufig auf den centralen Punkt des
Charakters an sich. Die psychische Kraft
bleibt aber hierbei nicht stehen. Einmal
Agens des fremden Charakters an sich,
dient sie diesem nicht nur zur Übertragung

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 303, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0303.html)