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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 308

Text

SPRENGEL: SIGBJÖRN OBSTFELDERS »TAGEBUCH EINES GEISTLICHEN«.

rechte Priester? Ja, es ist Religion in der
Wissenschaft. Sie macht den Raum weiter
und weiter, nach oben und nach innen.
Sie bleibt niemals stehen, sie sucht und
sucht, der Menschen eigene Sinne sind
ihr nicht genug, sie erfindet Teleskope,
um höher und höher hinaufzukommen,
Mikroskope, um tiefer und tiefer hinein-
zukommen. Sie lässt uns das Weltleben
ahnen in seiner mächtigen Pracht, sie
zeigt uns das Ziel für das ganze All-
leben höher und höher, sie leitet uns
auf den Weg zu einem schwachen
Schimmer der Spur von seinem Lineal,
und auf der Tiefe lässt sie uns das
Mysterium ahnen, ein Mysterium, das
leuchtende Klarheit, Glanz von Krystall-
millionen besitzt.« Die Einheit durchgeht
das All: »Der Gedanke des Gehirns, der
Blick des Auges, Mikroskop, Teleskop,
Spectroskop, sie zogen den Vorhang fort
von einer Zeichnung, einem Netz, einem
Gewebe, hinter dem Stoff, hinter den
Muskeln, hinter dem Blattgrün, hinter dem
blauesten Äther, innen zwischen Zellen,
innen zwischen Erdkugeln. Eine herrliche
Zeichnung in Bogen und Wellen, mit
leuchtendem Raum dazwischen. Siehst
du es? Siehst du den Tempel hinaus
über alle Weltenräume, das Tabernakel
der Welt, siehst du die Wölbungen, die
leben, die Linien, die sich verschlingen
und umarmen, weiter eilen und sich
kreuzen, beständig merkbarer, beständig
wunderbarer. Siehst du es? Sähest du?
Es verwandelte sich, während du es
sähest! Es zittert in der Welt Taber-
nakel! Es zittert in den Pfeilen.
Die Bogen beben. Es steht nicht still
dort drinnen im Blau. Es tanzt!
In dieser Secunde wurde es ein neues
Weltennetz! Es wurde ein neuer Tempel!
Die Linienmillionen wurden neue Linien-
millionen! Eine zittert langsam, während
tausende springen. Eine gebraucht tausend
Jahre, um die neue zu werden, während
andere ein Tausendstel von einer Secunde
gebrauchen. Zellen werden zu neuen ver-
brannt, Zellen tanzen sich zu Tode. Jede
Linie biegt sich, jede Spirale dreht sich.
Sieh’! In dieser Secunde ist das! Diese
Secunde ist Jahrtausende! Diese Secunde
ist Jahrmillionen! Sieh’ bloß die langen,
geraden Bande, von Glied zu Glied, die

am leichtesten für das Menschenauge sind,
sieh’ sie, wenn sie in den Längen der
Myriaden beginnen, so klein beginnen,
so klein zu zittern, so schwach zu wollen,
Neues wollen, neue Linien wollen, von
gerade krumm werden wollen; sieh’, wenn
die Eile wächst, der Windungen ver-
zweigtes Spiel! Und die Atome! Und die
Molecüle und Zellen. In Reihen. In Kreisen.
Vier und vier, sechs und sechs, zehn und
zehn. In bunten Heeren. Bilder in zitternden
Wogen gegen Bilder. Wie die Mücken-
schwärme, in denen jede Mücke tanzt,
während der ganze Schwarm lautlos dahin-
schwebt«.

Sind das nicht die Resultate, zu denen
die moderne Wissenschaft gekommen ist,
mit eines großen Dichters Intuition ge-
sehen und im Brennspiegel einer herr-
lichen Phantasie gesammelt? Selten ist
dies mit einem solchen Glanz geschehen
wie hier, und ist geeignet, die Leere in
dem oft gehörten kindischen Geschwätz
von dem Unpoetischen einer natur-
wissenschaftlichen Anschauung zu zeigen.
Obstfelder war selbst ein strenger Natur-
wissenschaftler und Mathematiker von
Beruf, und nichts in seinem Buch sind
leere Schwärmereien ins Blaue hinein.
Dass er hinter dem von der Wissenschaft
Aufgefassten etwas noch Größeres ahnte,
ein Mysterium, war sein Recht als Poet.
Indessen entsteht für den Mann im Buche
diese Frage: Wenn der Mensch schon vor
dem Donnerer im alten Testamente im
Staube kroch, wie muss er nicht jetzt
verschwinden vor der Größe Dessen, der
in diesen Weiten und Gewalten herrscht,
von der die Bibel sich nichts träumen
ließ? Aber nein, ist die Antwort, die
Ewigkeit ist in uns. In uns selbst zittert
der ganze Weltenraum. Dies ist das Größte
in Obstfelders geistigem Testament. Hinter
seinen eigenen geschlossenen Augen sieht
er den Erdball dort drinnen rollen, rollen
in dem Farbenmeer, das vor der Schöpfung
war; Farben sieht er so glühen, wie der
Menschen Netzhaut nicht erträgt, Farben
glühen zu sehen; Ewigkeiten sieht er dort
drinnen in seinem Gehirn, das Echo von
Jahrtausenden hört er in dessen Windungen,
und er sieht glühende Welten in seinem
Blute rollen; Welten sieht er verbrennen,
um eine einzige Schwingung in seiner

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 308, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0308.html)