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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 309

Text

SPRENGEL: SIGBJÖKN OBSTFELDERS »TAGEBUCH EINES GEISTLICHEN«.

Seele zu erzeugen. Das schwach Mensch-
liche ist nun vorbei, das gebrechlich Zeit-
liche ist vergangen. Der Mensch ist kein
Wurm mehr, er ist unendlich, er ist der
Weltenraum, er ist die Ewigkeit. Sterne
brausen hoch dort oben über unseren
Häuptern, und in uns brennen ewige
Sterne. Und das Buch schließt mit einer
Orgelhymne an das unerschöpfliche, immer
aufs neue schaffende Leben, das in der
Morgenröthe flammt, im Blumenkelch
bebt und im Blut in unseren Herzen
brennt, eine Hymne so stark und mächtig,
dass man dem Klang des Weltenraumes
selbst zu lauschen glaubt.

Mit seltsamen Gedanken im Kopf legt
man Obstfelders Buch fort. Wenn man
im Leben den kleinen, bleichen Poeten
sah, wer hätte da gedacht, dass er uns
ein solches Werk geben würde!

Man versteht, dass er selbst dies Buch
nicht herausgeben wollte, das geeignet
war, sein Lebenswerk zu werden, aus
Angst, dass nicht jedes Wort das richtige
sein könnte, das vom Gedanken und Traum
gegebene. Aber so hat er auch das Un-
vergängliche erreicht.

Sein Wesen aber war die Feuerflamme,
die nach den Sternen hinaufschlägt, sein
Leben war Spähen nach Schönheit und
Ewigkeit, und als er starb, war er wie
Einer, der Lebewohl sagt und heimgeht.
Glücklich er, dessen Antlitz nun ruhig ist
und weit fort von allem Elend! In diesen
Nächten, wenn große, schwermüthige
Winde in den Bäumen der Parks brausen,
denken seine Freunde nicht ohne Neid
an den heimlosen norwegischen Poeten,
dessen Leib nun auf Frederiksborgs
Kirchhof ruht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 309, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0309.html)