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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 310

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RUNDSCHAU.

Den Unterschied im Wesen des
physiologischen und geometrischen
Raumes
untersucht der Philosoph E. Mach
im letzterschienenen »The Monist«. Der
physiologische Raum ist begrenzt, niemals
unendlich; das ihm correspondierende momen-
tane Gesichtsfeld lässt viel eher auf den meta-
geometrischen Raum der modernen Mathe-
matiker, als den cubischen Raum des Euclid
schließen. Gewisse Eigenschaften sind dem
physiologischen und dem geometrischen Raum
gemeinsam: die Mannigfaltigkeit beider Räume
ist dreidimensional; continuierliche Bewegung
eines Punktes ist in beiden Fällen ebenso wie
die genaue Ortsdetermination möglich.

Die Localisation von Reizen gehört dem
physiologischen Raum an — die wechselseitige
Anpassung verketteter Organe tritt in der
Raumperception zutage. Die Gesammtheit der
Körperoberfläche ist dem Tastsinn zugänglich,
nur ein begrenzter Theil dem Gesichtssinn.
Die Raumvorstellungen der einzelnen Sinne
sind nicht identisch; der durch Empfindung
entstandene Theil der Raumvorstellung reprä-
sentiert ein System von Empfindungsgruppen.
Obgleich der Gesichtssinn den klarsten und
präcisesten Charakter besitzt, ist der durch
den Tastsinn gewonnene Raumeindruck bio-
logisch wertvoller. Auch dieser hat seine eigen-
thümlichen Abweichungen und Inhomoge-
nëitäten nach den drei Abmessungen wie der
Gesichtsraum.

Änderungen in der Stetigkeit des Verlaufes
der Reizeindrücke werden unmittelbar per-
cipiert (mithin auch die Abgeleiteten der Reiz-
function). Die Raumempfindung ist von der
relativen Lage und Geschwindigkeit des Beob-
achters zu den Außendingen abhängig. Voll-
ständige Gewissheit kann nur bei Áusschluss
aller Bewegung erzielt werden — die geome-
trische Raumbetrachtung abstrahiert von dem
Einflusse der relativen Bewegung und unter-
sucht bloß die Lagenbeziehung der Objecte zu
einander.

Die empirische Raumanschauung bildet
ein entwicklungsgeschichtliches Problem — sie
ist das Resultat der specifischen Raumeindrücke
concurrierender Sinnesgebiete. Das Verdienst
Kants ist die Problemstellung. β

Eine Consequenz aus der Lehre
vom psychophysischen Parallelismus

gibt Dr. J. Pikler im letzten Heft der Zeit-
schrift für Psychologie und Physio-
logie der Sinnesorgane
. Von der Materie
wird nur ihre Veränderung wahrgenommen;
da die Bewegung nur dadurch besteht, dass
der gewesene Bewegungszustand im gegen-
wärtigen potentiell fest existiert, so besteht
auch im Bewusstsein die Summe aller vorher-
gegangenen Bewusstseinsveränderungen poten-
tiell
fort. Die materiellen Theilchen bewegen

sich, insoferne sie Object sind, sie haben ein
Gedächtnis
, insoferne sie Subject sind. Hier-
aus würde sich ergeben, dass die Träger der
einzelnen specifischen Sinnesenergien das Ge-
dächtnis ihrer eigenen Wirksamkeit besitzen;
jedoch steht im Widerspruch mit dieser An-
schauung die Thatsachc des Bleibens der Zu-
sammensetzung der Organismen trotz des Stoff-
wechsels. Der neu assimilierte Stoff gewinnt
nämlich dieselben Bewegungen wie der frühere,
daher ist die vorher angeführte Definition zu
erweitern: »Die einander folgenden, verschie-
densten Bewusstseinszustände — z. B. Empfin-
dungen verschiedener Sinne — desselben In-
dividuums haben ihr physisches Correlat in
weiteren Veränderungen derselben Bewegungen
oder Bewegungsänderungen, welche die phy-
sischen Correlate der früheren Bewusstseins-
zustände waren und deren Überbleibsel die
Correlate des Gedächtnisses dieser Bewusstseins-
zustände sind. Dem einheitlichen Bewusstseins-
verlauf desselben Individuums entsprechen
nicht einander folgende Veränderungen ver-
schiedener Stellen der nervösen Centralmasse,
sondern Veränderungen von Veränder-
ungen in denselben Stellen
w.

Kants Bedeutung für die Musik-
Ästhetik
behandelt mit viel Sachkenntnis
Franz Marschner in den letzten »Kant-Stu-
dien
«. In der »Kritik der Urtheilskraft« finden
sich bereits die Pole der heutigen Musik-
betrachtung: Formal- und Inhalts-Ästhetik als
Ausgangspunkt der Kritik. Die Musik nimmt
bei Kant eine tiefe Stellung ein: Das Tonspiel
ist bloß ein Wechsel von Empfindungen. Das
Spiel eilt in der Musik von der körperlichen
Empfindung zu den ästhetischen Ideen, von
hier (mit vereinter Kraft) auf den Körper
(»Kritik der Urtheilskraft«, § 54).

Diese formal-ästhetische Gedankenreihe
wird von Hanslick aufgenommen und weiter-
geführt (»Vom Musikalisch-Schönen«). Das
Schöne hat an sich selbst überhaupt keinen
Zweck. Nicht das (vitale) Gefühl, sondern die
Phantasie ist Organ der Reception des Schönen.
Affecte können durch die Musik nicht erregt
werden. Tonwerk und Stimmung hängen nicht
zusammen. Gegenstand der Musik sind einzig und
allein tönend bewegte Formen. Die Tonkunst
ist inhaltslos. — Die Bedeutung dieser Gedanken
liegt zunächst darin, dass die durchaus unhalt-
bare »Gefühls-Ästhetik« durch die Hanslick’sche
Schrift ihr Ende fand. Lotze findet (1855) in
seiner Kritik der Hanslick’schen Studie, dass
Hanslick im Kampfe gegen pathologische
Gefühlseindrücke zu weit gegangen, dass es
jedoch richtig sei, nur das Dynamische als
unmittelbaren Inhalt der Musik zu bezeichnen.
Die Musik überträgt auf ihre Figuren den
Gefühlswert, der für uns den Inhalt hat, an

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 15, S. 310, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-15_n0310.html)