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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 16, S. 315

Text

LUCKA: ZUR SYMBOLIK IN WAGNERS »PARSIFAL«.

storbenen Mutter, und mit furchtbarer
Gewissheit offenbart sich ihm die Pflicht;
der Schleier der Maya fällt von seinen
Augen, die physische Causalität versinkt
in Bedeutungslosigkeit und unter den
musikalischen Motiven des ersten Actes,
die das Transcendente symbolisieren, er-
fasst er die ethische Bedeutsamkeit der
Welt und erkennt sein Erlöseramt. Wie
Gôtama unter dem Bodhibaume, wird
Parsifal unter Kundrys Küssen zum Er-
leuchteten. Mit merkwürdigem Scharfblick
sucht sich nun die Versuchung gerade
durch das Centrum seines Bewusstseins,
das Erlöser-Mitleid, seiner zu bemächtigen.
Die hier dargestellte Überwindung des
anschaulichen, concreten Mitgefühls zu
Gunsten des kosmischen zeugt von höherer
Weisheit und klarerer Erkenntnis als der
ähnliche, aber fruchtlose Process im letzten
Theil von Nietzsches »Zarathustra«. Der
unüberbrückbare Dualismus im Wesen der
Welt (den auch zum hundertsten Male
aufgewärmter »Monismus« aller Art und
missverstandene Renaissance-Philosophie
nicht hinwegdeuten können) wird dem
rein Erkennenden klar; er weist auch dem
Weibe den Weg des Heils, der ihr aber
noch verschlossen ist — denn sie steht
noch im Zwange der Welt (im Zauber-
banne Klingsors). Parsifal ist vom Irdischen
nicht befleckt; der Speer fällt ihm zu,
in der Hand des Erlösers wird die phy-
sische Causalität zur heilbringenden: Kling-
sor, der Wille zum Übel, ist todt, und
mit ihm sind die Blumenmädchen, das
reizende, untiefe Moment der Sinnlichkeit,
verwelkt. Doch das Wesen des Weibes
muss noch in Kundry umgewertet werden.

Parsifal hat die hohe Bedeutung des
Speeres erkannt. Er nützt ihn nicht als
Waffe im Streite mit der Welt, denn in
der Hand des Erleuchteten wird die Er-
scheinung selbst Mittel zur Erlösung. Der
Speer schließt die Wunde, die er einst
schlug, vertilgt die Erbsünde. Er sehnt

sich nach dem »verwandten Quelle, der
dort fließt in des Grales Welle«, die Welt
sehnt sich, dass sie der Mensch zu Gott
zurückbringe, wie die deutschen Mystiker
sagten. Das »Principium individuationis«
ist durchbrochen und der neue, reine und
geniale Mensch »verwaltet nun das Amt«
des früheren intellectuellen Menschen.
Parsifal wird an Amfortas’ Stelle Gralkönig.
Der Gral wird jetzt endgiltig enthüllt,
nicht nur auf kurze Momente, wie zu
Zeiten Titurels und Amforas’.* Die
letzten Worte der Dichtung: »Erlösung
dem Erlöser!« (Unsichtbarer Chor aus der
Höhe, entsprechend dem Chorus mysticus
im »Faust«) beziehen sich nicht auf einen
persönlichen Erlöser. Es ist der Gral, das
Metaphysische im Menschen, das durch
die erlösende That befreit worden ist.
Die physische Causalität ist
durch die ethische abgelöst
.
(Tiefster Sinn der Dichtung.)**

Die meisterhafteste Gestalt, die Wagner
geschaffen, und eine der gewaltigsten der
Weltliteratur ist Kundry. In dieser einen
Persönlichkeit liegen alle Seiten des Weibes
verknüpft. Der Mangel einer Individualität
im höheren Sinne (das heißt die innerliche
— intelligible — Identität aller Frauen-
Charaktere) ist einfach dadurch gekenn-
zeichnet, dass den verschiedenen diver-
gierenden Männergestalten eine einzige
Frau gegenübersteht, die allerdings im
Banne männlicher Hypnose mehrere Me-
tamorphosen durchmacht. Des Weibes
eigentlicher Herr ist Klingsor, der sie im
Zauberbann hält und trotz des zeitweiligen
Durchbrechens ihres besseren Bewusstseins
zum Verderben der Welt zu gebrauchen
weiß. Um es besonders deutlich zu zeigen,
dass es wohl disparate Männer-Charak-
tere
(psychische Strebungen) in Zeit und
Raum, aber nur ein einziges weibliches
Princip (materielle Kraft) gibt, wird die
Identität Kundrys mit Herodias und
Gundryggia (»Ur-Teufelin, Höllen-Rose«)

* »Wer erkennt, dass die von einander verschiedenen Eigenschaften der Dinge nur von
einem Wesen allein ihren Ursprung haben, der geht in Brahma ein.«
Bhagavad Gîta, XIII, 27—30 (nach der Übersetzung von Franz Hartmann).

** Der merkwürdigen Übereinstimmung halber möchte ich hier auf das bekannte Gedicht
Goethes: »Der getreue Eckhart« hinweisen, das den Dichter von einer wenig beachteten Seite
zeigen möchte:

»O wären wir weiter, o wär ich zu Haus,
Sie kommen, da kommt schon der nächtliche Graus;
Sie sind’s, die unholdigen Schwestern.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 16, S. 315, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-16_n0315.html)