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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 328

Text

SWINBURNE: MELEAGERS TOD.

CHOR.

Wohin nun von dannen
Wirst du entführt,
Jählings von wannen
So heimlich berührt,
Dass Jeder dein Leiden am eigenen
Leibe spürt?

MELEAGER.

Mein Herz glimmt in Bränden,
Zu Asche verzehrt,
Wer mich sah enden
Ohne Leier und Schwert,
Dem sei mein trübes Gedächtnis in
Liedern wert.

CHOR.

Wie wirst du enthoben
Dem Tod und der Schmach?
Wer ist, dich zu loben
Nicht hilflos und schwach?
Wer trägt in ferne Lande dein
Ungemach?

MELEAGER.

Doch du, die Gesichten
Vertrauend, beschloss,
Mich zu vernichten —
Entspringt deinem Schoß,
Wenn mit Schatten ich wandle, ein
andrer Spross?

OENEUS.

Da dieser mir schwindet,
Wie wird mir Entgelt!
Im Helden wo findet
Sich solch’ Sohn und solch’ Held,
Der mein Licht war, und mit dem
zugleich mein Leben zerfällt?

CHOR.

Du warst froh mit den Frohen
Und schön über Preis.
Bei Niedern und Hohen
Galt dein Wort als Geheiß.
Zum liebenden Sohne wurdest du
jedem Greis.

MELEAGER.

Wenngleich du wie Feuer,
Aus sich selber genährt,
Mein Wunsch ist doch scheuer,
Der deiner begehrt,
„Wie der sanfte Hauch, den mir deine
Lippe gewährt.

ATALANTA.

O, dass in den Rinnen
Der Adern mein Blut
Erstarrte tief innen,
Wie Winters die Flut,
Ehe mein Blick auf deiner Umnachtung
ruht!

CHOR.

Als du triebst Thraciens Heer
Aus den Heimatsgauen,
Nie kehrte es mehr,
Noch ertrug es, zu schauen
Dein Antlitz, das schrecklich war vom
Schlachtengrauen.

OENEUS.

O stürbst du im Wetter
Und Tosen der Schlacht,
Im Ohr das Geschmetter
Der siegenden Macht,
Im Blitzen der Schwerter, geblendet
von Pracht!

CHOR.

Der Welt ist’s verkündet
Im Lied und im Wort,
Dein Ruhm ist begründet
Und leuchtet fort
Von des Nordens Gebirgen zum fernsten
Port.

MELEAGER.

O trüget Ihr mich,
Und häuftet Sand
Bei dem Meeresstrich
Auf thrakischem Strand,
Der in den Pontus sich windet als
Band!

OENEUS.

O lasse dich halten
Von heimischer Gruft,
In den tiefen Falten
Von Bergschlucht und Kluft,
Die deinen Namen vielfältig weiter-
ruft!

MELEAGER.

Den Todten nichts bindet,
Weit besser zerschäumen,
Wo keiner ihn findet
Im Wogenbäumen,
Dass die Strudel ihn wie ein Gewand
umsäumen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 328, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-17_n0328.html)