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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 329

Text

ACHELIS: WILHELM WUNDT.

CHOR.

Wer weckt dich zum Licht
Und wird dir’s verkünden,
Wenn der Tag anbricht
In allen Gründen,
Und die Völker zu einem Stamm sich
verbünden?

MELEAGER.

Dass die Winde mich trieben
Und mich Wellen verschlängen
Im Wirbelstieben
Der Meeresengen,
Wo mich Meergötter in den Schlummer
sängen!

CHOR.

Die Götter sind gnädig
Dem, den sie bezwangen.
Der Qualen ledig,
Wird dich Ruhe umfangen;
Doch was wird dir für das Leben, das
süße Leben, das vergangen?

MELEAGER.

Nicht das Leben, das schafft
In Fleisch und in Bein,

Nur die ruhende Kraft,
Das verborgene Sein
Im Thau auf den Gräsern und im
Gestein.

CHOR.

Du warst mächtig und groß
Und kehrst nun zum Staub.
Dein Blut in den Erdenschoß,
Deine Glieder zu Gras und Laub,
Und deine Seele den gierigen Göttern
zum Raub?

MELEAGER.

Die Jahre sind lüstern,
Jeder Tag voll Begehr.
Die Götter umdüstern
Sich mehr und mehr;
Und wer setzte sich ihrem Ingrimm
zur Wehr!

CHOR.

Die Götter verwalten
Die menschlichen Schätze.
Sie weben die Falten
Und spinnen die Netze
Des Schicksals, dass der Mensch sich
verhülle vor ihrem Gesetze.

WILHELM WUNDT.
Von TH. ACHELIS (Bremen).

In der wissenschaftlichen Welt ist das
Erscheinen eines neuen Werkes von
W. Wundt immer ein Ereignis. Jeder
weiß, dass er es mit gediegener Forschung
zu thun hat, die noch dazu den Vorzug
hat (was für weite Kreise unserer Ge-
lehrten besonders hervorgehoben zu werden
verdient), lesbar zu sein. Hier finden wir
nicht die leidige Angewöhnung, mit fremden,
kaum Eingeweihten verständlichen Kunst-
ausdrücken zu prahlen, anderseits — Gott
sei Dank — ebenfalls nicht die bedenkliche
Tendenz Nietzsches und seiner Schüler,
statt durch eine objective sachliche Prüfung
des Thatbestandes uns durch eine blen-
dende, fascinierende Rhetorik zu bestechen.
Endlich die wohlthuende Ruhe und Vor-

nehmheit einer völlig vorurtheilslosen,
jedenfalls nie persönlichen Polemik. So
ist es kein Wunder, wenn die Schriften
dieses vorzüglichen Denkers eine steigende
Verbreitung erfahren, welche sich weit
über die eigentlichen fachmännischen Kreise
hinaus erstreckt; vollzieht sich doch in
ihm, an seiner Person die so lang ersehnte
organische Verknüpfung zwischen den
beiden maßgebenden Factoren unserer
Weltanschauung, zwischen Philosophie und
Naturwissenschaft. So darf auch wohl das
große Unternehmen, dessen erster Theil
jetzt vorliegt (Völker-Psychologie,
eine Untersuchung der Entwicklungs-
gesetze von Sprache, Mythos und Sitte.
Erster Band: Die Sprache, 1. und 2. Theil.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 329, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-17_n0329.html)