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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 330

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ACHELIS: WILHELM WUNDT.

Leipzig, Wilh. Engelmann, 1900 und
1901, Preis je 14 Mk.), auf ein weiteres
Interesse rechnen, als es sonst die speci-
fisch philosophischen Werke hervorzurufen
pflegen.

Die Völker-Psychologie ist etwas über
vierzig Jahre alt und seltsamerweise
auf demjenigen Boden entsprossen, welcher
eigentlich dieser Richtung am aller-
ungünstigsten war: der Herbart’schen atomi-
sierenden Individual-Psychologie. Das Pro-
gramm der 1859 durch Lazarus und
Steinthal ins Leben gerufenen Zeitschrift
für vergleichende Sprachwissenschaft und
Völker-Psychologie suchte in scharfem Ge-
gensatz zur Aufklärungs-Philosophie, die
alles aus bewusster Überlegung Einzelner
ableiten wollte, den socialen Factor in
den großen Erscheinungen des geistigen
Lebens festzuhalten, indem es dabei an
den alten aristotelischen Satz anknüpfte:
Der Mensch ist von Natur ein geselliges
Geschöpf. Es heißt hier: Die Psychologie
lehrt, dass der Mensch durchaus und seinem
Wesen nach gesellschaftlich ist, d. h. dass
er zum gesellschaftlichen Leben bestimmt
ist, weil er nur im Zusammenhange mit
Seinesgleichen das werden und das leisten
kann, was er soll; so sein und wirken,
wie er zu sein und zu wirken durch sein
eigenstes Wesen bestimmt ist. Auch ist
thatsächlich kein Mensch das, was er ist,
rein aus sich geworden, sondern nur unter
dem bestimmenden Einflusse der Gesell-
schaft, in der er lebt. Jene unglücklichen
Menschen, welche in der Einsamkeit des
Waldes wild aufgewachsen waren, hatten
vom Menschen nichts als den Leib, dessen
sie sich nicht einmal menschlich bedienten;
sie schrien wie das Thier und giengen
weniger, als sie kletterten und krochen.
So lehrt traurige Erfahrung selbst, dass
wahrhaft menschliches Leben der Menschen,
geistige Thätigkeit nur möglich ist durch
das Zusammen- und Ineinanderwirken der-
selben. Der Geist ist das gemeinschaft-
liche Erzeugnis der menschlichen Gesell-
schaft. Hervorbringung des Geistes aber
ist das wahre Leben und die Bestimmung
des Menschen; also ist dieser zu gemein-
samem Leben bestimmt, und der Einzelne
ist Mensch nur in der Gemeinsamkeit,
durch die Theilnahme am Leben der
Gattung. Die Grundlage für das über

das thierische Dasein sich erhebende
Sein und Wirken des Menschen ist dem-
nach zuerst die Gemeinsamkeit mit gleich-
zeitigen Nebenmenschen. Doch diese
gibt nur erst den ungebildeten Menschen,
den Wilden, durch welchen der Geist nur
erst hindurchschimmert, ohne leuchtend
und wärmend aus ihm hervorzustrahlen.
Das Bewusstsein des gebildeten Menschen
beruht auch noch auf einer durch viele
Geschlechter hindurch fortgepflanzten und
angewachsenen Überlieferung. So ist der
Einzelne, welcher an der gemeinsamen
Geistesbildung theilnimmt, nicht nur
durch seine Zeitgenossen, sondern noch
mehr durch verflossene Jahrhunderte
und Jahrtausende bestimmt und von
ihnen abhängig im Denken, Fühlen
und Wollen. Deshalb wird die Sphäre
der neuen Forschung folgendermaßen
abgesteckt: Es verbleibe der Mensch als
seelisches Individuum Gegenstand der
individuellen Psychologie, wie eine solche
die bisherige war; es stelle sich aber als
Fortsetzung neben sie die Psychologie
des gesellschaftlichen Menschen oder der
menschlichen Gesellschaft, die wir Völker-
Psychologie nennen, weil für jeden Ein-
zelnen diejenige Gemeinschaft, welche
eben ein Volk bildet, sowohl die jederzeit
historisch gegebene, als auch im Unter-
schied von allen freien Culturgesellschaften
die absolut nothwendige und im Vergleich
mit ihnen die allerwesentlichste ist. Einer-
seits nämlich gehört der Mensch niemals
bloß dem Menschengeschlecht als der all-
gemeinen Art an, anderseits ist alle son-
stige Gemeinschaft, in der er etwa noch
steht, durch die des Volkes gegeben. Die
Form des Zusammenlebens der Menschheit
ist eben ihre Trennung in Völker und die
Entwicklung des Menschengeschlechtes ist
an die Verschiedenheit der Völker gebun-
den. Es darf jetzt als ein ziemlich
allgemeines Gut wissenschaftlicher Er-
kenntnis bezeichnet werden, wenn überall
in culturhistorischen und psychologischen
Untersuchungen diese Idee socialpsycho-
logischer Anschauung das Leitmotiv
bildet; vor allem ruht die so überaus
fruchtbare, moderne vergleichende Rechts-
wissenschaft ebenso wie natürlich auch
die Sociologie und Völkerkunde auf diesen
Principien. Es wäre nach diesen Aus-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 330, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-17_n0330.html)