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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 332

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ACHELIS: WILHELM WUNDT.

Sitte, Kunst u. s. w. haben noch jederzeit
sowohl einer einseitigen individualistischen,
als sociologischen Ableitung hartnäckig
widerstanden. Es gibt zwei bestimmte
Merkmale, erklärt daher Wundt, an denen
das, was wir im geistigen Leben eines
Volkes ein gemeinsames Erzeugnis nennen,
von einer individuellen Schöpfung principiell
stets zu unterscheiden ist. Das erste besteht
darin, dass an jenem unbestimmt viele
Glieder einer Gemeinschaft in einer Weise
mitgewirkt haben, welche die Zurück-
führung der Bestandtheile auf bestimmte
Individuen ausschließt. So ist die Sprache
im objectiven, wie im subjectiven Sinne
ein gemeinsames Erzeugnis. Objectiv, weil
eine unbestimmt große Zahl von Menschen
an ihr thätig waren; subjectiv, weil die
Einzelnen selten sie als eine Schöpfung
betrachten, die ihnen Allen zugleich ange-
hört. Das zweite Merkmal ist dies, dass
gemeinsame Erzeugnisse in ihrer Entwick-
lung zwar mannigfaltige Unterschiede zeigen,
die vornehmlich auf abweichende geschicht-
liche Bedingungen zurückweisen, dass sie
aber trotz dieser Mannigfaltigkeit gewisse
allgemein giltige Entwicklungsgesetze er-
kennen lassen. In diesen Verhältnissen
liegt es begründet, dass jedes gemeinsame
Erzeugnis fortwährenden Einwirkungen
von seiten Einzelner ausgesetzt bleibt,
Einwirkungen, die, sobald eine historische
Überlieferung entstanden ist, durch diese
verstärkt werden. So haben vom Beginn
geschichtlicher Zeugnisse an Dichter,
Redner, Gesetzgeber an der Sprache ge-
arbeitet, und Manches, was zum allge-
gemeinen Sprachgut geworden ist, kann
daher unmittelbar auf einen einzelnen
Urheber zurückgeführt werden. Bei Mythos
und Sitte ist die Mitarbeit Einzelner jeden-
falls nicht minder bedeutend, wenn sie
auch im allgemeinen schwerer nachzu-
weisen ist, weil hier die Überlieferung
der literarischen Zeugnisse länger entbehrt.

Ebensowenig dürfen wir uns darauf
einlassen, den Begriff des Volksgeistes vor
ungehörigen Verdächtigungen in Schutz
zu nehmen; es muss genügen, wenn wir
bemerken, dass mit diesem Ausdruck
durchaus nicht, wie man wohl gemeint
hat, irgend eine metaphysische Substanz
gemeint ist, der in der Wirklichkeit nichts
entspricht, sondern einfach die Gesammt-

heit aller geistigen Erzeugnisse innerhalb
einer concreten socialen Gemeinschaft. Es
ist zunächst auch gleichgiltig, mit welchem
Umfang und Areal wir zu rechnen haben,
ob es sich um große, abgeschlossene,
ethnisch scharf gesonderte Völkergruppen
handelt oder nur um kleinere Gebilde, wie
Stämme und Horden, selbst Geschlechts-
Genossenschaften, nur wird es immer die
Aufgabe der Forschung sein müssen, aus
dem jeweiligen Detail der Untersuchung
zu mehr oder minder allgemein giltigen
Gesetzen der geistigen Entwicklung auf-
zusteigen. Gerade in dieser Beziehung, vor
allem, um die so interessanten und doch
bis vor wenigen Decennien fast völlig
unbekannten Anfänge der menschlichen
Gesittung kennen zu lernen (nicht etwa,
wie bislang, nur speculativ zu erschließen),
sind die Documente der Völkerkunde von
unschätzbarer Bedeutung, allein ein Werk,
wie das bekannte Tylor’sche: Die Anfänge
der Civilisation und darin wieder das glän-
zende Capitel über den Animismus hat
für die zutreffende socialpsychologische
Analyse unserer Cultur Bewundernswertes
geleistet.

Wie bereits angedeutet, bilden Sprache,
Mythos und Sitte die Objecte der völker-
psychologischen Forschung, da alle drei
Erzeugnisse socialpsychologischer Wirksam-
keit sind. Die Zeiten sind hoffentlich für
immer dahin, wo man unbefangen von
Erfindung und Schöpfung Einzelner sprach
unter Voraussetzung planmäßiger Reflexion
— eine völlige Verkennung organischen
geistigen Wachsthums, wie sie nur in
dem rationalistischen, durch und durch
ungeschichtlichen XVIII. Jahrhundert
möglich war! Trotzdem soll auch hier
nicht der Einfluss Einzelner völlig in
Abrede gestellt werden, schon deshalb
nicht, weil schließlich alles geistige Leben
auf das individuelle Bewusstsein als
schöpferische Quelle zurück führt. Aber
wir sind für unsere kritische Beobachtung
zu wenig imstande, wenigstens in Bezug
auf den etwaigen Ursprung dieser drei
großen Gebilde, diesen Antheil genau zu
fixieren. Viel leichter ist das schon für
die weitere Entwicklung, so, wenn sich
aus dem alles umschließenden Mythos
das persönlichem Einfluss mehr zustän-
dige Gebiet der Religion abzweigt oder

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 332, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-17_n0332.html)