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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 333

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ACHELIS: WILHELM WUNDT.

aus dem ebenso breiten Untergrund der
Volkssitte das bestimmte Normen fest-
setzende Recht. Wundt charakterisiert
diese drei großen Gebiete folgendermaßen:
In der Sprache spiegelt sich zunächst die
Vorstellungswelt des Menschen. Ihr Reich-
thum an Wörtern entspricht im allgemeinen
dem Vorstellungsreichthum des Bewusst-
seins; indem Wandel der Wortbedeutungen
äußern sich die Gesetze der Veränderungen
der Vorstellungen, wie sie unter dem
Einflusse wechselnder Associations- und
Apperceptionsbedingungen stattfinden; und
in dem organischen Aufbau der Sprache,
wie er uns in der Bildung der Weltformen
und in der syntaktischen Fügung der
Redetheile entgegentritt, gibt sich die
concrete Gesetzmäßigkeit zu erkennen,
von der die Verbindung der Vorstellungen
unter den besonderen Natur- und Cultur-
bedingungen der einzelnen Sprachgemein-
schaften beherrscht ist. Der Mythos gibt
sodann den in der Sprache niedergelegten
Vorstellungen vornehmlich ihren Inhalt,
da er in dem ursprünglichen Volksbewusst-
sein die gesammte Weltanschauung noch
in abgesonderter Einheit umschließt.
In den Entstehungsbedingungen seiner
Bestandteile zeigt er sich jedoch so
sehr von Gefühlsrichtungen bestimmt,
dass die Erfahrungs-Einflüsse nur als die
äußeren Gelegenheits-Ursachen erscheinen,
die, indem sie Furcht und Hoffen, Be-
wunderung und Staunen, Demuth und
Verehrung erwecken, ebenso die Richtung
der mythologischen Vorstellungen, wie die
Auffassung der Objecte überhaupt be-
dingen. Die Sitte endlich umfasst alle
die gemeinsamen Willensrichtungen, die
über die Abweichungen individueller Ge-
wohnheiten die Herrschaft erringen und
die sich zu Normen verdichtet haben,
denen von der Gemeinschaft Allgemein-
giltigkeit beigelegt wird. In diesem Sinne
entspricht daher unter jenen drei Haupt-
gebieten der Völker-Psychologie die

Sprache der Sphäre des Vorstellens, der
Mythos der des Gefühls, die Sitte der
des Wollens im individuellen Seelenleben.
Es versteht sich aber von selbst, dass
diese Abstraction sich nicht unmittelbar
mit der Wirklichkeit deckt und dass
überall, wie im persönlichen seelischen
Leben, sich auch hier die verschiedenen
Elemente durchkreuzen, aus denen sich
schließlich eine socialpsychologische Schö-
pfung zusammensetzt. Ebenso reich, wie
die Fülle des geistigen Lebens ist, die
sich unter dieser Perspective unserem
Blick erschließt, ebenso mannigfaltig ist
naturgemäß die Forschung, die uns zu
dieser Erkenntnis der Gesetze des geistigen
Lebens führt. Nur ein Hinweis möge
zur Veranschaulichung des Problems ge-
stattet sein. Letzten Endes handelt
es sich in dieser umfassenden Cultur-
wissenschaft um das Verständnis unserer
eigenen Persönlichkeit und damit der
leitenden Gesetze, welche für unsere
geistige Entfaltung maßgebend sind. In
der Entwicklung der Menschheit spiegelt
sich unser individuelles Dasein, das nach
dem großen biogenetischen Gesetz eben
nur eine verkürzte Stammesgeschichte dar-
stellt. Alle auf den ersten Blick auch noch
so befremdlichen Ausnahmen und Ab-
weichungen vom typischen Verhalten auf
dem Gebiete der Religion und Sitte stellen
sich in dieser vergleichend psychologischen
und alle einzelnen Entwicklungsphasen
berücksichtigenden Auffassung als streng
nothwendige Erscheinungen unseres Be-
wusstseins heraus, so dass wir, zugleich
im Hinblick auf die allgemeinen und ele-
mentaren Formen unseres geistigen Lebens,
mit Peschel sagen dürfen, das Denkver-
mögen der Menschen gleicht sich bis auf
seine seltsamsten Sprünge und Verirrungen.
Um diese Überzeugung zu begründen und
zu verbreiten, ist die Völker-Psychologie
und im weiteren Sinne die Völkerkunde
eines der vorzüglichsten Mittel gewesen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 333, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-17_n0333.html)