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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 338

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KUHLENBECK: DIE GESCHLECHTSLIEBE IM LICHTE DER DESCENDENZ-THEORIE.

schaulicht. Aber aus diesem, oft sogar
blutbefleckten Schaum des Meeres tauchte
Kypris unbefleckt für die emporsteigenden
Rassen hervor, zuerst für die Hellenen
als Göttin der Liebe, als Göttin der
Freude, von welcher ein Dichter sagt,
dass »alle anderen Freuden nicht wert
sind des mit ihr verbundenen Schmerzes«,
als Göttin jener geistig-sinnlichen und
darum im höchsten Maße ästhetischen
Lust, die ein anderer Dichter in den
Versen darstellt:

»Eins ist Leib und Geist, sein selbst in Wonne
vergessend,
Fühlt nun Mann und Weib sich im Beglücken
beglückt.
Seelenentzücken und sinnlicher Rausch — wer
wagt es zu scheiden?
Herzlicher Einklang tönt, nimmer verhallender,
fort.«* (Carrière.)

Vom Kampfpreis aber ist der Zweck
des Kampfes zu unterscheiden, die Aus-
prägung vollkommener Individuali-
täten
. Zwar meint Emerson in seinem
Essay über die Liebe, wo er das berühm-
teste Repräsentantenpaar dieser oft auch
so tragischen Leidenschaft erwähnt: »Das
Leben hat bei diesem erlauchten Paare
keinen anderen Zweck, verlangt nichts
mehr, als Julie — als Romeo.« Aber er
lässt sich täuschen durch den tragischen
Ausgang dieser Romanze, welcher den
höheren Zweck vereitelt. Nicht alle Blüten-
träume reifen, das Leben ist ein Kampf,
bei dem endlicher Sieg nur verbürgt
wird durch die Möglichkeit unendlicher
Wiederholung des Ansturmes auf einem
Schlachtfelde, das zahllose Heldenleichen
bedecken. Wäre das Leben anders, so
wäre es nicht heroisch. »Tausend Leben
und meines und Anderes mehr.«

Unmöglich können wir, wenn wir
Kypris in diesem Lichte betrachten, sie
mit jenen zu Anfang erwähnten Mystikern
und Asketen für die »Sünde«
erklären. Ein solches Urtheil ist nur auf
der Grundlage einer absolut pessimistischen,
lebensfeindlichen Weltanschauung möglich.
Sünde ist Zweckwidrigkeit, nicht Erfüllung
eines Naturzweckes. Sündhaft ist daher
jene Geschlechtsliebe, welche in Ver-
kennung des dem Lichte zugewendeten

Strebens der Fortpflanzung der Panmixia
huldigt, die »freie« Liebe, wie sie ein
wüstes Geschlecht der Entartung fordert
(Chacun à chacune); sündhaft auch die
unfreie »Liebe« oder vielmehr Prostitution
und Preisgabe, welche die wichtigste An-
gelegenheit der Menschheit an die klein-
lichen, egoistischen Zwecke einer conven-
tionellen, »geschäftlichen« Ehe verräth,
sündhaft natürlich vor allem jegliche
sexuelle Perversität, d. h. vollständige
Umkehr und Irreleitung des Naturzweckes.
Die immanente Teleologie, an die wir
glauben, lässt über die Sünde niemals
einen Zweifel, da sie die Strafe ihr stets
an die Fersen knüpft; so unterliegt es
auch keinem Zweifel, dass die »Gift-
schlange«, deren »Lauern unter den Rosen
der Wollust« unser zeitweilig sehr phallisch
gestimmter Goethe so sehr bedauert, die
grüßte Feindin der Gesundheit, lediglich
ein Erzeugnis und Cerberus der Panmixia
ist. Ich schließe diesen Aufsatz mit einem
Selbstcitat: »In allen höheren Thier-
gattungen ist nicht nur die Erhaltung der
Gattung Zweck des Fortpflanzungstriebes,
sondern die Erzeugung bestimmter In-
dividuen
. Je höher das Thier in der
Stufenleiter des Seins steht, umso selbst-
ständiger wird es als Individuum. Der
Adler horstet paarweise, die Krähe ist ein
Heerdenvieh der Luft. Bei allen edleren
Gattungen sehen wir deshalb den Fort-
pflanzungstrieb sich auf ein bestimmtes
Exemplar der Gattung beschränken, sich
individualisieren und damit das in
ihm enthaltene sinnliche Element sub-
ordinieren und veredeln, freilich auch eben
durch seine Vergeistigung in demselben
Grade kräftiger und mächtiger werden.
Es ist, wie Schopenhauer erkannte, der
Lebenswille eines neuen Individuums, der
das Elternpaar zusammenzwingt. — Mag
die Rose auch ohne ihre im dunklen
Erdreich haftende Wurzel nicht gedeihen,
mag sie auch ohne die aus der Tiefe
geschöpften Säfte verwelken, so ist sie
selber doch weit mehr ein Kind des Sonnen-
lichtes als der Erde« (»Reformation der
Ehe«, S. 29, Dieters Verlag, Leipzig).
Den juristischen (sociologischen) Forde-

* Diese Verse widerlegen auch das berüchtigte, vom Pessimismus gelegentlich im Sinne
der ästhetischen Mystik geltendgemachte Omne animal post coitum triste; die fragliche Tristitia
folgt als Naturgewissen nur der sinnlichen Ausschweifung, nicht der naturgemäßen Liebe.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 338, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-17_n0338.html)