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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 339

Text

RUNDSCHAU.

rungen des in mancher Hinsicht ver-
besserungs- und ergänzungsbedürftigen
Büchleins, dem dieses Selbstcitat ent-
nommen ist, aber möchte ich in Er-
wägung der ernsten, durch die moderne
Descendenzlehre bekräftigten geschichts-
philosophischen Mahnungen des Grafen
Gobineau an dieser Stelle folgende hin-
zufügen: Zur Wiederherstellung und
Sicherung einer natürlichen Aristo-
kratie
gegenüber der gesellschaftlichen,
vielfach durch kurzsichtigen Egoismus,
Streberthum und Mammonsdienst degene-
rierten, die sich als ihre fratzenhafte
Caricatur darstellt, erscheint die auch aus
Gründen der Volkshygiene immer dring-
licher werdende Verpflichtung zur Füh-
rung von Stammbäumen
geboten,

und zwar von solchen, welche nicht nur
die socialen, sondern vor allem auch die
natürlichen Eigenschaften, die Rasse und
insbesondere also auch die Todesursache
der Vorfahren einer Person kundbar
machen; jegliche Verdunkelung
der Herkunft
aber, z. B. durch den
oft trügerischen Wechsel des Familien-
namens, ist zu verbieten. »Reine
Rasse ist das einzig Legitime
, in
welchem Stande, ist ganz schnuppe, aber
nur nicht gemischt. Im anderen Falle ent-
steht daraus Kummer und Elend und Un-
frieden«, sagt Graf Oskar, ein guter Be-
obachter des Lebens. (»Vom Grafen Oskar,
Zeitbild Napoleon, Zwangsherrschaft« von
St. v. Kaisenberg, S. 135.)

RUNDSCHAU.

Bölsches »Liebesleben in der
Natur
«.* Vor einem halben Jahrhundert
schloss Humboldt seinen Kosmos mit den
schlichten Worten: »Ein physisches
Naturgemälde bezeichnet die Grenze, wo
die Sphäre der Intelligenz beginnt und der
ferne Blick sich senkt in eine andere Welt.
Es bezeichnet die Grenze und überschreitet
sie nicht.« Seither ist die Naturwissen-
schaft ein wenig selbstbewusster geworden.
Die Biologie wurde selbständiger Wissens-
zweig, die Anthropologie erstand über
Nacht. Den exacten Wissenschaften, denen
man bis dahin nur Mathematik und Physik
zugezählt hatte, gesellte sich die Wissen-
schaft vom Leben bei, schließlich die
(experimentelle) Psychologie. Es war der
große Triumphzug des Positivismus, aus
dem sich der gröber organisierte Bildungs-
philister eine Art Materialismus zurecht-
klaubte. Aber die Naturwissenschaft ist
viel zu eng mit den tiefsten Problemen
verflochten, als dass sich dieser Zustand
lange hätte behaupten können. Die Natur-
philosophie kam, wenn auch nicht gleich

zu Ehren, so doch vorderhand zu neuem
Leben. Die exacten Wissenschaften im
alten Sinne des Wortes vergeistigten sich.
Nur die biologischen Disciplinen hielten
an ihrem dogmatischen Positivismus fest,
uneingedenk der Verschiedenartigkeit in der
Methodik der Natur- und Geisteswissen-
schaften. War es der Stolz und das sieg-
reiche Bewusstsein, dem räthselhaftesten
organischen Gebilde der Welt (optisch)
nähertreten zu können, oder die Bannkraft
der führenden Individualitäten? Es bleibt
bestehen, dass sich die Biologie, speciell
die Zoologie, jener gewissen »knolligen«
materialistischen Auffassungsweise nicht
entledigte, somit eigentlich vorgefasste, in
das Gebiet der transcendentalen Deutung
gehörige Begriffe in die Forschung
hineintrug.

Bölsche ist durchaus ein Kind dieser
Periode. Ausgestattet mit umfassendem
naturwissenschaftlichen Wissen, künst-
lerisch begabt, weiß er mit diesen
beiden kostbaren, prächtigen Gaben nichts
anderes anzufangen, als sie in vollstem

* W. Bölsche: »Liebesleben in der Natur«, I. und II. Folge. Leipzig, 1901. Verlag
E. Diederichs.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 339, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-17_n0339.html)