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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 340

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RUNDSCHAU.

Maße zur Verherrlichung des Monismus
zu verwenden. Die Bannkraft Häckels
zwingt den wirklich poetisch sein Object
betrachtenden Naturforscher stets und stets
in die Kreise eines immanenten Monismus:
Die Unendlichkeit des Stoffes, die Plasticität
des Stoffes, und zuguterletzt die Zellseele
— die berühmte Kohlenstoff-Hymne. Alles
Evolution, Entwicklung. Die Materie
ab initio belebt (nicht beseelt), der Ver-
stand ein »zufälliges« Entwicklungsproduct.
Wer sentimental aufgelegt ist, erinnere
sich an die tiefe Resignation der Humboldt’-
schen Worte.

Von dieser Warte aus besieht sich
Bölsche die Liebe. Neben der individuellen,
»geträumten« Unsterblichkeit die »reale«,
durch die Existenz der Geschlechtsliebe
bedingte und verbürgte Unsterblichkeit der
Gattung: Die Zeugung als Äquivalent des
Todes. Tief aber dringt Bölsche nicht;
vielleicht, weil er zunächst für das
große Publicum schreibt, das er schnellen
Fluges mit dem Faustmantel mitten in
die Problemwelt hineinsetzen will. Die
Lösung der Probleme ist seine Sache
nicht. Ȇber den engeren philosophischen
und naturwissenschaftlichen Inhalt meines
Liebesbüchleins mag manches grüne Gras
noch wachsen.« Seine Art ist, zu schil-
dern, das Naturbild in scharfen Umrissen
hinzuwerfen; andeuten, wo die Schwierig-
keit liegt; das Dickicht nicht zu zerhauen,
sondern auseinanderzulegen und helle
Flächen dahinter zu erspähen. Das mag
wohl Manchem gefallen. Verhehle man
sich aber nicht, dass auch das seine
Schwierigkeiten hat. Die große Natur-
schilderung ist seit langem verlassen.
Humboldts Spuren konnte man nicht leicht
folgen. Helmholtz wandte sich mit seinen
erkenntnis-kritischen Schriften überhaupt
nicht an das naive Publicum. Ebenbürtig
an Diction und Ausblick bleiben vielleicht
nur Liebigs »Chemische Briefe«, Ross-
mässlers romantischer »Wald«, wenn man
will, Cottas »Geologische Bilder« und
Flammarions »Rêves étoiles«.

Abstrahiert man von metaphysischer
Tiefe und philosophischer Kritik, so muss
man Bölsche als einen glänzenden Ver-
treter feinsinniger Popularisierungskunst
bezeichnen. Die Unerschöpflichkeit des
Evolutionsproblems beutet er für seine

(zunächst künstlerischen) Zwecke weise aus.
Verglichen mit den aufdringlich-aufkläre-
rischen Schriften aus der Zeit des »Cultur-
kampfes«, zeigen seine Essays hohe Form-
vollendung, überwiegend dichterische Ge-
staltung, künstlerisches Vermögen. Er
beherrscht das wohltemperierte, chromati-
sche Clavier der deutschen Sprache.
Wenn seine Sprachkunst im Aphoristi-
schen und Essayistischen auch öfter eine
leise Manieriertheit nicht abzustreifen ver-
mag, in der Naturschilderung ist sie dem
Thema völlig gewachsen.

In der (eben erschienenen) II. Folge
des »Liebeslebens« überwiegt das Lehr-
hafte, die Verwertung des Thatsachen-
materiales. Die Evolution der Liebe über
dem Unterbau der Evolution der Fort-
pflanzungsorgane und des Generations-
mechanismus bildet den hauptsächlichsten
Inhalt. Des heiklen Problems wurde Bölsche
in vornehmer Weise Herr — nackte Keusch-
heit an Stelle der unkünstlerischen und
unsittlichen (anglischen) Verhüllungsmanie
zu bringen, stellte er sich von allem An-
fang an zur Aufgabe. Dadurch wurde ihm
Vieles zu sagen möglich, das, dem Bio-
logen und Naturforscher nicht unbekannt,
seinen Weg in die Alltagskenntnis noch
nicht genommen hat. In theoretischer
Hinsicht trennt Bölsche Mischungs- und
Distanzliebe als Evolutionsstufen in ähn-
licher Weise wie Moll, der in seinen
Untersuchungen über die Libido sexualis
die Generationsfunction in eine »Detu-
mescenz«- und »Contrectations«-Compo-
nente zerlegt hat. Übrigens ist diese
II. Folge etwas zu reich mit Concessionen
ausgestattet. Sich gewissermaßen zu ent-
schuldigen, wenn man der Materie schlecht-
hin Erinnerungsvermögen zuspricht, hat
man heute, im Jahrhundert Fechners, kaum
mehr nöthig. Gewisse Dinge gehen über
den Horizont des Normalbürgers und sind
anscheinend nicht dazu vorhanden, um von
ihm mundgerecht verschluckt zu werden.
Man muss sie ihm daher auch nicht mund-
gerecht zubereiten. »Wie etwas sei leicht,
weiß, der es erfunden, der es erreicht«,
heißt es in Goethes »Divan«. Wer nicht
selbst erfunden, nicht wenigstens nach-
erfunden hat, der bleibe abseits Zur
Wissenschaft steigt man hinauf; sie hat
es nicht nöthig, herabzusteigen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 17, S. 340, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-17_n0340.html)