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Und nun zu dem bedeutendsten Theile
in Bölsches Liebesbuch. Dieser handelt
vom Paradiesvogel, vom Ästhetischen der
Liebe, vom Ästhetisch-Planvollen der Natur.
Hier regt sich leise ein speculativer Zug.
Eine Gedankenreihe wird entwickelt, die
Jenen nicht unbekannt sein kann, die ihre
Kritik der Urtheilskraft gründlich durch-
gemacht haben, die Fechners kosmologische
Lehren kennen. Ganz bewusst spricht
Bölsche von einem ästhetisch-morpho-
logischen Princip in der Natur, welches
nicht bloß das verschleierte Nützlichkeits-
princip ist, wenn sich auch ästhetische
Wirkungen aus den geplanten Nützlich-
keitsabsichten öfters entwickeln können.
Er concediert die Existenz eines parallel
mit der physikalischen Contactwirkung
laufenden rhythmischen Elementes als Ur-
Function der organischen Zelle; das heißt
Abgestimmtheit der Zelle auf harmonische
Reize, eine Art ästhetischer Wahl* bereits
im einzelligen Wesen, also in jenem
Wesen, das sich aus der »bewusstlosen«
Materie im Continuum entwickelt hat. Das
heißt wohl nichts anderes, als harmonische
Präformation der Materie, und damit sind
wir mitten im Mysticismus der Pythagoräer.
Die physikalische Formulierung dieses
Principes, die sich bei Fechner im An-
schlusse an die Theorie der Fourier’schen
periodischen Reihen entwickelt findet, steht
damit nicht im mindesten im Widerspruch.
Sie verbürgt im Gegentheile die Richtig-
keit dieses uralten speculativen Grund-
gedankens.
Aber das Wichtigste, was Bölsche zu
sagen gehabt, steht in der Vorrede: »Ich
meine, dass die Brücke vom strengen
Fachgebiet, wo man gewisse Thatsachen
halb oder ganz wahr aufhäuft, bis zur
Verständigung in Kreise hinein, wo man
mehr große Linien des Denkens und Welt-
durchgrübelns braucht, wesentlich über die
Kunst geht.« O. B.
Über Karppes eben erschienenes Werk:
»Etude sur les origines et la nature du Zohar«
findet sich eine längere Kritik im Sep-
tember-Heft des »Mercure de France«. Das
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Buch Zohar ist die Bibel der mystischen
Kabbalisten, das System aller mystisch-
semitischen Ideen. Die Kabbala setzt —
völlig esoterisch — der rationalistischen
Buchstabenkritik die reine Metaphysik
entgegen. Sie ist hervorgegangen aus dem
Widerstande des freien Geistes gegen die
talmudisch verclausulierte dogmatische
Behandlung des Schrifttextes. Der Schöpfer
der Kabbala (Isaak) verfasste seine Schriften
um das Ende des XII. Jahrhunderts in
der Provence. Der deutsche Zweig der
kabbalistischen Schule, als dessen Haupt
Eleasar von Worms zu erwähnen ist,
begründete die eigentliche Zahlen- und
Buchstabenmystik. Das Buch Zohar, die
Vereinigung aller kabbalistischen Doctrinen,
entstand ein Jahrhundert später. In dieser,
fast modernen Geist athmenden Ency-
klopädie trifft man Untersuchungen über
die schaffende und in sich ruhende Gott-
heit, über die Ur-Substanz, über die Theorie
der Emanation, über Buchstaben- und
Zahlenmystik, über das sexuelle Gesetz,
über den Menschen als Mikrokosmos,
ferner über Astronomie, Physiognomie und
Physik; daneben Astrologie, Chiromantie
und Alchymie. Christliche, gnostische,
pythagoräische, platonische und neu-
platonische Gedankengänge durchsetzen
das Werk.
Das Buch Zohar entstand im XIII. Jahr-
hundert in Beaucaire im südlichen Frank-
reich, also auf einem Boden und zu einer
Zeit, da die Alchymie triumphierte, Roger
Bacon und Raymundus Lullus wirkten und
die Lehren der Albigenser sich verbreiteten.
Man ist somit gezwungen, anzunehmen,
dass sich um jene Zeit eine wechsel-
seitige Durchdringung abendländischer und
semitischer Mystik vorbereitete.
»Ernst Häckel und der Spiri-
tismus.« Ein Protest von Max Seiling.
Leipzig. Druck und Verlag Oswald Mutze.
1901. — Unter den zahlreichen Entgegnun-
gen, welche Häckels »Welträthsel« hervor-
gerufen hatten, verdient diese kleine Schrift,
welche den Standpunkt der occulten
Forschungsweise vertritt, einige Beach-
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