Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 20
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schmerzlich entbehren, welches, was ihm an Bequemlichkeit
gefehlt, jederzeit durch Stimmung zu ersetzen vermocht hat.
Nur der grosse Zug, der hin und wieder durch diese Kaffee-
hausidylle ging, wurde von den sensiblen Stammgästen als
Stilwidrigkeit empfunden, und in der letzten Zeit häuften
sich die Fälle, dass junge Schriftsteller angestrengte Pro-
ductivität mit einem Rheumatismus bezahlten. Dass in einem
so exceptionellen Café auch die Kellnernatur einen Stich
ins Literarische aufweisen musste, leuchtet ein. Hier haben
sich die Marqueure in ihrer Entwicklung dem Milieu an-
gepasst. Schon in ihrer Physiognomie drückte sich eine
gewisse Zugehörigkeit zu den künstlerischen Bestrebungen
der Gäste, ja das stolze Bewusstsein aus, an einer lite-
rarischen Bewegung nach Kräften mitzuarbeiten. Das Ver-
mögen, in der Individualität eines jeden Gastes aufzugehen,
ohne die eigene Individualität preiszugeben, hat diese Kellner
hoch über alle ihre Berufscollegen emporgehoben, und man
mochte nicht an eine Kaffeesiedergenossenschaft glauben,
die ihnen die Posten vermittle, sondern stellte sich vor, die
deutsche Schriftstellergenossenschaft habe sie berufen. Eine
Reihe bedeutender Kellner, welche in diesem Kaffeehause
gewirkt haben, bezeichnet die Entwicklung des heimischen
Geisteslebens. Eine überholte Dichtergeneration sah Franz,
den Würdigen, dessen Andenken noch in zahlreichen Anek-
doten festgehalten wird. Es lag Stil und Grösse darin, wenn
er einem Passanten, der nach zwanzig Jahren wieder einmal
auftauchte, dieselbe Zeitung unaufgefordert in die Hand gab,
die jener als Jüngling begehrt hatte. Franz, der k. k. Hof-
Marqueur, hat eine Tradition geschaffen, welche heute von
den Jungen über den Haufen geworfen ist. Mit dem Tode
des alten Kellners, dessen hofräthliche Würde schlecht zu
dem Sturm und Drang der Neunzigerjahre gepasst hätte,
begann eine neue Aera. Franz, der mit Grillparzer und Bauern-
feld verkehrt hatte, erlebte es noch, wie der Naturalismus
seinen Siegeslauf von Berlin in das Café Griensteidl nahm
und als kräftige Reaction gegen ein schöngeisterndes Epi-
gonenthum von einigen Stammgästen mit Jubel aufgenommen
ward. Seit damals gehört das Café Griensteidl der modernen
Kunst, eine neue Kellnergeneration stand bereit, sich mit
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 20, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0020.html)