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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 21

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DIE DEMOLIRTE LITERATUR. 21

dem complicirten Apparat von Richtungen, die in der Folge
einander ablösten, vertraut zu machen; die bis dahin als
Zuträger einer veralteten Literatur gedient hatten, waren
nun als Zahlmarqueure einer modernen Bewegung mit der
Umwerthung aller Werthe beschäftigt; sie verstanden es, mit
der Zeit zu gehen, und genügten bald den Anforderungen einer
gesteigerten Sensitivität. Die Stimmungsmenschen, die jetzt
wie die Pilze aus dem Erdboden schossen, verlangten seltsame
Farbencompositionen für Gefrorenes und Melange, es machte
sich die gebieterische Forderung nach inneren Erlebnissen
geltend, so dass die Einführung des Absynths als eines auf
die Nerven wirkenden Getränkes nothwendig wurde. Sollte
die heimische Literatur aus Paris und Deutschland ihre An-
regungen erhalten, so musste das Kaffeehaus sich die Ein-
richtungen von Tortoni und Kaiserhof zum Muster nehmen.

Bald war man mit dem consequenten Realismus fertig,
und Griensteidl stand im Zeichen des Symbolismus. »Heim-
liche Nerven!« lautete jetzt die Parole, man fing an, »Seelen-
stände« zu beobachten und wollte der gemeinen Deutlichkeit
der Dinge entfliehen. Eines der wichtigsten Schlagworte aber
war »Das Leben«, und allnächtlich kam man zusammen, sich
mit dem Leben auseinanderzusetzen oder, wenn’s hoch ging,
das Leben zu deuten.

Die ganze Literaturbewegung einzuleiten, die zahlreichen
schwierigen Ueberwindungen vorzunehmen, nicht zuletzt,
dem Kaffeehausleben den Stempel einer Persönlichkeit auf-
zudrücken, war ein Herr aus Linz berufen worden, dem es in
der That bald gelang, einen entscheidenden Einfluss auf die
Jugend zu gewinnen und eine dichte Schaar von Anhängern
um sich zu versammeln. Eine Linzer Gewohnheit, Genialität
durch eine in die Stirne baumelnde Haarlocke anzudeuten,
fand sogleich begeisterte Nachahmer, — die Modernen wollten
es betont wissen, dass ihnen der Zopf nicht hinten hing.
Alsbald verbot der verwegene Sucher neuer Sensationen
aus Linz seinen Jüngern, von dem »Kaiserfleisch des Natu-
ralismus« zu essen, empfahl ihnen dafür die »gebackenen
Ducaten des Symbolismus« und wusste sich durch derlei
zweckmässige Einführungen in seiner Position als erster
Stammgast zu behaupten. Seine Schreibweise wurde von der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 21, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0021.html)