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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 23

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DIE DEMOLIRTE LITERATUR. 23

Es ist die Kunst der Nerven, von den Nerven auf die
Nerven, und man muss dabei an Berti Goldschmidt denken
und an die psychologie blasée der Stendhal und Huysmans,
von den Goncourt’s über Lavedan bis zu Loris und Maurice
Barrès und nach Portoriche, die mit der feinen Nase für
den Geruch der Dinge, die wie ein letzter Rest von Cham-
pagner ist und sich wie die zähe Schmeichelei verblasster
alter Seide fühlt, aber immer ein bischen in dem lieben,
traulichen Wienerisch des Canaletto. Er gibt müde Stim-
mungen, die um die Kunst der Watteau und Fragonard sind,
mit der weichen Grazie der Formen und mit den halben,
heimlichen Contouren, die sich nur noch nicht recht trauen.
Aber es gährt noch. Seine Kunst sucht Harmonie. Ein Rest
bleibt. Das sind die kurzen Sätze. Ich kann nichts dafür.
Es sind verwegene, ungestüme und verworrene Triebe, die
drängen. Aber der zuversichtliche Gestalter des intimen Er-
lebnisses, das Kunst verlangt, setzt sich bald durch. Und nun
die Darstellung. Da will Vieles nicht. Manches gelingt. Die
Sandrock war wieder ein köstliches Wunder an reiner Kraft
und Schönheit. Aber ihre fürstliche Kunst war allein. Nur
Herr Nhil darf sich noch an ihr messen, allenfalls auch der
sicher wachsende Giampietro und Tewele, wenn er sich die
Nase abgewöhnen möchte. Bei den Anderen musste ich an
Iglau denken, dort, wo es schon Leitomischl ist. Es war
schändlich und beleidigend. Freilich fehlt die Regie. Künst-
lerische Triebe zerfahren. Ein besserer Tapezierer und Kadel-
burg kann nicht helfen. Die sichere Weise des spitzen Martinelli
wäre da mehr am Platze gewesen, seine nachdenkliche und
wägende Technik, die trifft. Herr Kutschera lässt als Gigerl
seine Helden vergessen. Fräulein Hell, die immer so heult,
werde ich nie vergessen und verwinden können. Darum spielen
sie jetzt auch die junge, begabte Bauer gegen die ältere Collegin
aus, jenes liebe, blasse Mädchen, das rührt.

Aber wie Herr Broda den Moritzky gab, muss man
sehen. Ganz Wien sollte hin. Das ist über den Spanier
Vico und den Holländer Boomeester etwas ganz Neues, wie
er in diesen Moritzky hineinkriecht, ohne Rest. Er gab
die Erlösung und Weihe des Abends. Es ist ein halber
Kainz in ihm und eine heimliche Duse. Mir fehlen die Worte.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 23, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0023.html)