Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 25
Text
Auch jene Menge von Kennern, welche die Posen erst aus
zweiter Hand haben und auf die Affectationen subabonnirt
sind, bekannte sich jetzt zur olympischen Weltanschauung,
und das ruhige Künstlerauge, mit dem einige reine Künstler
über ökonomische Thatsachen hinwegsahen, verrieth nur zu
deutlich die Goethe-Naturen. Kurz, Alles, was im Café
Griensteidl die Zeche schuldig bleibt, war jetzt abgeklärt.
Wer nicht eigentlich zur Literatur gehörte, aber den Ge-
sprächen lauschen und Stichworte bringen durfte, begann
sich als Eckermann zu fühlen. Der Führer aber, der so that,
als ob Weimar und nicht Urfahr die Vorstadt von Linz
wäre, weitete seinen Blick immer mehr und wurde so viel-
seitig, dass man allgemein befürchtete, er werde sich am
Ende noch mit Farbenlehre und Optik beschäftigen. Denn nicht
zufrieden damit, eine ungefähre Kenntniss des Theaters zu
besitzen, fing er jetzt an, bildende Kunst misszuverstehen,
ja abstract philosophische Themen eingehender zu verflachen.
Für den wohlwollenden Ton, in welchem dieser erste Kenner
zu seiner Menge sprach, sind die Worte charakteristisch,
die er unlängst in einer Abhandlung über den Werth körper-
licher Uebungen geschrieben hat: » und so kann man
mich jetzt, gegen meine sonst lieber sitzende und meditativ
herumliegende Art, fleissig in unserer lieben Stadt spazieren
sehen, ganz wie Vater Horaz, behaglich schlendernd, Schwänke
im Sinn, ohne Plan.«
Ueber den Verkehr mit seinen Schülern ist bekannt,
dass der Herr aus Linz sich jederzeit mit Selbstentäusserung
für sie eingesetzt hat. Ohne ihn wäre manche junge Talent-
losigkeit frühzeitig zugrunde gegangen und vergessen worden.
Es sind nicht Wenige, die sich rühmen können, von ihm ent-
deckt zu sein. Sie tragen das unverlöschliche Brandmal
seiner Prophezeiung, Europa werde in vier Wochen von
ihnen sprechen. »Wie ich Europa kenne« — denn, sagte er
einmal, »Europa zwischen Wolga und Loire hat kein Ge-
heimniss vor mir«. Nun schien es aber selbst in dieser be-
scheidenen Einschränkung doch ein Geheimniss vor ihm zu
haben. Es wollte sich, selbst als man den Termin der vier
Wochen erheblich prolongirt hatte, zu einer Aeusserung über
die im Café Griensteidl gemachten Entdeckungen nicht bewegen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 25, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0025.html)