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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 26

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26 KRAUS.

lassen. Aber vielleicht hat gerade der Umstand, dass sie
nach so lärmender Inscenirung unbekannt blieben, diesen
jüngsten Dichtern einen Namen gemacht.

Eine der zartesten Blüthen der Decadence sprosste dem
Café Griensteidl in einem jungen Freiherrn, der, wie man
erzählte, seine Manierirtheit bis auf die Kreuzzüge zurück-
leitet. Die Art des jungen Mannes, der sich einst zufällig
in das Kaffeehaus verirrte, gefiel dem Herrn aus Linz. Als
jener sich vollends zu der enthusiastischen Bemerkung hin-
reissen liess: »Der Goethe is ganz g’scheit«, da fühlte dieser:
hier lag eine Fülle von Manierirtheit, die der Literatur nicht
verloren gehen durfte. So ward in dem Jüngling das Be-
wusstsein seiner Sensitivität geweckt, welches ausgereicht
hätte, ihn zu productivem Schaffen anzuregen. Dazu kam
eine mit Kalksburg übertünchte Phantasie, und als das
Product jener geistigen Beschränktheit, welche, von den
sich an das Wort »wienerisch« knüpfenden Vorstellungen
ausgefüllt, unter dem Namen: reines Künstlerthum geläufig
ist, entstand eine Novelle, »Der Kindergarten der Un-
kenntniss«.

Kein Wunder, dass sie dem Entdecker gefiel. Er stellte
den Autor neben Goethe, den neuerlich zu feiern er Ge-
legenheit fand, und freute sich, dass ihm das Verständniss
für den ihm unbekannten Meister aus der Ueberschätzung
des ihm bekannten Dilettanten so schön aufgegangen war.
Goethe hatte die Bausteine für einen jungen Ruhm und die
Phraseologie einer neuen Kunst für das Café Griensteidl
zu liefern. In der That erschien das kunstphilosophische
Grundprincip von dem »Besondern, aus dem das Allgemeine
zu ziehen« und dem »Einzelfall, der in das Ewige zu rücken«
ist, wiederholt compromittirt und als modernes Schlagwort
protzig hingestellt, auf die letzte literarische Sensation in-
soferne anwendbar, als hier der Herr aus Linz für eine be-
sondere Talentlosigkeit das allgemeine Interesse in Anspruch
nehmen wollte und die Blamage, die wohl ein Einzelfall war,
in das Ewige zu rücken gewusst hat.

Noch oft hat Goethe ihm in der Folgezeit wichtige
Dienste geleistet; sein Zettelkasten wuchs, entwickelte sich,
reifte. Die sattsam bekannte Anekdote von dem Hunde

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 26, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0026.html)