Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 63
Text
und Bretagner beugte sich resignirt vor dem Tode. Und seine
Gedanken kehrten zum Meere zurück. Mit trockener Stimme
fragte er:
»Um wie viel Uhr?«
»Um 5 Uhr,« sagte Jemand.
Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, ein wildes Röcheln.
Um 5 Uhr! Zur Zeit, als er selbst ins Wasser sprang.
O, das Meer, das elende!
Er begriff plötzlich das sanfte Schmeicheln, das ironische
Lächeln, mit dem die Fluth seine Schritte begleitet hatte.
Während er ihr dort die Beute entriss, nahm sie ihm hier
seinen Sohn.
O, die Elende, die Elende!
Mit einer wilden Geberde wandte er sich gegen das
Meer. Heimtückisch hatte es gesiegt; jetzt noch höhnte
es und sang freudig und fing in den tanzenden Wellenkämmen
die letzten Strahlen auf. Roth stand am Horizont die Sonne,
von der Fluth förmlich verschlungen; blutig ward von ihrem
Schein das Auge des Fischers, der unzähmbar der ewigen
Feindin die Stirne zeigte, eine rachesinnende Stirne und ein
felsenfestes Antlitz. Lange sahen sie sich an, der Mensch und
das Meer, wie zwei Ringende, die Athem schöpfen. Sie schienen
auf einander zu horchen und sich zu verstehen, geheimniss-
volle Herausforderungen und Hasseskundgebungen auszu-
tauschen. Und dann verschwand die schon niedrig stehende
Sonne ganz. Das nun düstere Meer schien zurückzuweichen,
abzunehmen, und als der Wind sich über der Steppe erhob
und das ferne Brausen der Wellen übertönte, da schien es,
als ob die Wasser verstummt wären vor dem Hassesblick des
Menschen. — — — — — — — — — — — —
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 63, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0063.html)