Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 64
Text
Sie schritten durch den weiten, grünen Park, über den
die Sonne ihr weisses Licht goss. Die Dame rauschte in
einem dünnen lila Seidenkleid mit weiten Glockenärmeln und
unten verbreitertem Rocke; in der Rechten hielt sie einen
zierlichen lila Seidenschirm, mit dem sie ihr unbedecktes,
dunkelblondes Köpfchen schützte. Der Herr dagegen trug
einen eleganten, grauen Smoking, einen grauen, steifen Hut
mit breitem, schwarzem Bande und in der Hand ein Paar
neuer, heller Glacés.
Er sagte eben: »Ich liebe Sie, gnädige Frau. Antworten
Sie mir: Darf ich hoffen? Weisen Sie mich nicht zurück?
Ist irgend welche Aussicht?«
»Nein,« erwiderte sie ruhig. »Keine!«
»Aber warum denn nicht, um Himmelswillen?«
Sie senkte ihr blasses Gesichtchen, das die glatte Boti-
celli-Frisur wie ein Rahmen umschloss; dann sagte sie leise:
»Weil ich einen Andern liebe.«
»Wen?« brach er heftig los. »Etwa den Lieutenant
Korff?«
»Nein! Den gewiss nicht!«
»Oder den Doctor Weil?«
»Nein! Den schon gar nicht!«
»Oder den Banquier Gellert?«
»Nein! Den bei allen Engeln nicht!«
»Ja — also! wen lieben Sie denn? Sonst kommt ja
Niemand mehr hieher!«
»Oh doch! Einer — Victor.« Langsam und feierlich kam’s
heraus: »Ich liebe Victor, meinen Mann.«
Da sah er sie zuerst stumm an, dann aber nahm er
stürmisch ihre feine, weisse, schlanke Hand, tauchte seine
Lippen voll darauf und huldigte ihr wortlos, ganz ergriffen.
»Gnädige Frau,« sagte er später, »ich bete Sie ehrfurchts-
voll an. Ich bin unendlich glücklich, dass ich nun doch
eine Frau fand, die ihrem alten Gatten so die Treue wahrt.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 2, S. 64, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-02_n0064.html)