Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 87
Text
merkwürdigen Geschichte, die der alte Schäfer ihm einstmals
erzählt hatte.
Es kam ein Geheimniss in ihr vor, das kein Mensch
auflösen konnte. In dem Kopfe des Kindes begannen die
wunderlichsten Vorstellungen zu erwachen. Auf Alles, was
ihn bewegte, hatte er noch Aufklärung erhalten, warum
gerade über dies nicht? Warum hatte die Mutter zu weinen
und der Alte zu schweigen begonnen, als er es aussprach?
Liebe! Liebe!
In der Nacht erwachte er plötzlich und setzte sich auf.
Es war ihm so wunderlich. Er hörte Glocken klingen, und
der Athem wollte ihm schier vergehen vor dem Wehen der
zahllosen weissen Flügel, die durchs Zimmer schwirrten.
Wem gehörten sie alle diese schmalen, hohen, schneeigen
Schwingen? Ein kühler Wind entsprang ihrer Bewegung.
Das Kind schaute und schaute. Dann legte es die Hand auf
die Schulter der schlafenden Mutter. »Warum läuten die
Glocken? Warum sind alle diese Flügel geöffnet?« Aber die
Mutter gab keine Antwort, sie schlief weiter. Mit einemmale
kniete der Knabe im Bette auf und breitete die Arme gegen
etwas aus. »Das ist sie, das ist sie «
Die Frau fuhr erschreckt empor und sah ihn lächelnd
zurücksinken.
»Nimm ihn gnädig auf, Herr Jesu Christ,« sagte sie und
faltete die Hände
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 87, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0087.html)