Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 97
Text
(Anlässlich des Recitations-Abends: Rafael Faelberg, F.W. Weber’s »Goliath«,
15. December 1896.)
Von Peter Altenberg (Wien).
Eines Tages fand Er ein Buch in einem rothen Einbande, irgendwo
in der Welt, auf einem Tische.
Sechs Jahre lag es von da an in seiner Nähe. Wie ein Hund,
der Uns liebt. Das Buch liebte Ihn, weil Er dasselbe liebte. Wirklich,
Er wusste nicht mehr, »ist das Buch bei mir oder ich bei meinem
Buche?!«
Immer wenn Er in diesem treuen Buche zu der Stelle kam:
»Gestern sagtest du zu mir: »lieber Olaf« — — —; meinst du es
so?!«, musste Er einen Augenblick innehalten, bevor er weiterlas. Dann
las Er weiter.
Dieses Innehalten wurde nie kürzer, im Laufe der Jahre.
Im fünften Jahre wurde es sogar um ein Stückchen länger. Und
einmal, eines Abends, ganz lang. Man hätte vermuthen können, Er
würde die Lectüre überhaupt diesen Abend nicht mehr fortsetzen. So
eine riesige Pause machte Er bei dieser Stelle. Aber auch an diesem
Abende las Er das Capitel zu Ende und das ganze Buch. Nur wie Er
zu den letzten Worten des Buches kam: »Glück ist Entsagung«, schloss
Er das Buch und küsste es einigemale und umfasste es in tiefer Freund-
schaft mit seinen Fingern und küsste es wieder.
An diesem Abende schlief es neben Ihm auf seinem Kopfpolster.
Niemand hatte eine Ahnung von diesem zärtlichen Verhältnisse
dieses verschlossenen Mannes zu seinem Buche.
Aber manchesmal sagte man über Ihn: »Was hat Er?! Wie pre-
occupirt stellt er sich. Welches süsse Geheimniss, he?!«
Einer edlen Dame zeigte Er zuerst das Buch; und gab es ihr.
Die Dame las es. Bei der Stelle: »Gestern sagtest du zu mir:
»lieber Olaf«; meinst du es so?!«, machte sie eine Pause. Dann las
sie weiter, zu Ende.
»Was ist denn mit dir?!«, sagte der heimkehrende Gatte.
»Nichts — — —,« sagte sie und küsste seine liebevolle Hand
und liess sie nicht mehr los, den ganzen Abend.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 97, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0097.html)