Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 99
Text
Erzählung von Fjodor Ssologub (Petersburg).
Autorisirte Uebersetzung von Alexander Brauner.
(Fortsetzung.)
Schweigend hörte er beim Anziehen die Moralpredigt des Studenten
an, und seine Augen waren böse und leuchteten schlangenartig. Die
rohen, ungeschickten Worte des Studenten schwirrten an seinen Ohren
vorbei, wie fast alle diese überflüssigen Worte, die er schon so oft
zu hören bekommen. Doch er dachte daran, dass der Student wahr-
scheinlich zu Hause tratschen und dass man über ihn wieder schimpfen und
lachen werde, und davor ward es Serjoscha bange. »Jeden Tag Gelächter
und Beschämung!« dachte er. »Wie habe ich nur so ein Leben verdient?«
Zu Hause begann man Serjoscha das Ungehörige seiner That zu
beweisen; Alle fielen über ihn her: Mama und Tante Katja, Papas
Schwester, eine dicke Frau mit einem gelben, runzligen Gesicht, und
die Cousine Sascha, die Tochter der Tante, ein dünnes Fräulein
mit einer tonlosen, gedehnten Stimme. Blöde hörte Serjoscha den
Worten zu und beachtete sie nicht. Er wusste ja selbst, dass es für
unanständig galt, das zu thun, was er gethan, doch daran zu denken,
war für ihn uninteressant.
Mama seufzte, schloss ihre schönen, schwarzen Augen halb und
sagte leise, ohne sich direct an Jemanden zu wenden:
»Wie unruhig er doch ist. Warum ist er nur so? Ich verstehe es nicht.«
Dann sah Mama den Studenten an.
»Constantin Osypitsch, Sie sollten ihn,« begann sie und blieb
stecken, ohne zu wissen, was sie sagen wollte; endlich schloss sie:
»Irgend wie so,« und dabei machte sie eine von den eleganten
Gesten, die Serjoscha so missfielen.
Constantin Osypitsch zog ein gescheites Gesicht und sagte tiefsinnig:
»Eine starke Nervositätdiese Generation überhauptund
das Ende des Jahrhunderts.«
Tante Katja meinte mit einer so saueren, müden Stimme, als
wäre sie am meisten beleidigt worden:
»Heutzutage gibt es aber auch Kinder! bei den Netschajew’s der
Knabe, der ist ja schrecklich!«
Sie beugte sich zu Mamas Ohr und flüsterte etwas. Serjoscha
stand düster bei Seite und wartete, bis man ihn entliesse; er dachte
kurze, böse Gedanken. Mit einer tiefbetrübten Miene hörte Mama die
heimliche Geschichte an, seufzte wieder und sagte:
»Ja, die Kinder So viel Sorgen Man weiss wirklich nicht,
wie man sein soll. Du, mein Herz, Serjoscha, halte dich doch selber
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 99, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0099.html)