Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 100
Text
von derlei Dingen zurück. Das sollst du doch einsehen, dass es für
dich schädlich ist; man rügt dich, und du regst dich auf. Und die
Aufregung schadet dir. Und auch mich sollst du schonen, du ruinirst
mich ganz. Es gibt auch ohne dich Sorgen genug «
»Nun, siehst du, Serjoscha,« sagte die Cousine, »du betrübst
deine Mama, und das ist nicht gut.«
Serjoscha blickte auf ihr helles, mit Puffen, Bändern und Falten
geschmücktes Kleid und dachte, es sei überflüssig, wenn sie sich einmenge,
es gehe sie doch gar nichts an. Sie sprach noch etwas, langsam und ton-
los, und ihre dünnen Lippen bebten peinlich. Die gedehnten Laute ihrer
Stimme versetzten Serjoscha in einen bangen, feindseligen Zustand,
und sein Herz zuckte und bebte. Endlich sagte er, die Cousine unterbrechend:
»Cousine Nadja hat geheiratet, du aber hast auch heuer keinen
Bräutigam und wirst auch keinen bekommen, weil du ewig sauer bist.«
Mama wurde böse, erröthete und sagte:
»Sergej, man wird dich bestrafen müssen.«
Die Cousine presste ihre dünnen Lippen zusammen, während die
Tante ausrief:
»Du bist schlecht, Serjoscha!«
»Es bleibt nichts übrig, als ihn zu bestrafen,« wiederholte Mama
mit müder Stimme.
Serjoscha blickte sie düster an. Er fühlte, dass sein Herz heftiger
schlug, dass seine Wangen blass wurden. Er dachte: »Wenn man
den Grossen täglich mit Bestrafung drohen würde! Bestrafen!«
»Und wie?« fragte er.
»Was?« verwunderte sich Mama.
»Wie bestrafen?«
»Man wird dich nicht fragen, wie,« sagte Mama zornig. »Ich
werde dir gleich die Barbara rufen, dann wirst du schon sehen, wie.«
»Die Barbara soll mich züchtigen?« fragte Serjoscha ruhig weiter.
Mama schlug die Hände zusammen und lachte nervös auf.
»Da soll man mit ihm reden,« sagte sie beleidigt. »Nein, führen
Sie ihn weg, Constantin Osypitsch, ich kann nicht mehr. Es wird irgend
ein Idiot werden.«
Serjoscha lachte genau so auf wie Mama und lief aus dem Zimmer.
Der rauhe Stoff der rothen Portiere berührte stechend seinen kurz-
geschorenen Kopf. Serjoscha dachte plötzlich daran, dass man ihn immer
beleidigte, und dass ein jeder Andere an seiner Stelle unbedingt weinen
würde. Er aber weinte niemals, und es that ihm sogar leid, dass er
nicht weinte: Die Mama hätte ihn vielleicht getröstet und liebkost. Ein
brennendes Verlangen nach Mamas Küssen und Zärtlichkeiten durchlief
mit hoffnungslos scharfem Strom des Knaben Seele, doch er unterdrückte
diese Wünsche rasch. Seine Lippen pressten sich trotzig zusammen, und
das bebende Kinn schmiegte sich an die Brust. Laufend kam er in sein
Zimmer, fiel rücklings auf das Bett, schlug mit den geknickten Füssen
in der Luft herum und begann nun leise zu heulen; unangenehme,
merkwürdige Laute waren es. Seine bösen Augen funkelten und weiteten
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 100, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0100.html)