Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 102

Wiener Walzer (Dehmel, Richard)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 102

Text

GEDICHTE.
WIENER WALZER.*)

Zwischen geputzten Herren und Damen,
die durch Zufall zusammenkamen,
wiegen zwei Menschen sich im Tanz,
um sie klingt des Saales Glanz.
Zitternd legt sich im Spiel der Kerzen
sein dunkles in ihr schwarzes Haar,
legt sich über zwei zitternden Herzen
an ihr Ohr sein Lippenpaar:

Oh ja, wiege dich, lass dich führen,
und fühl’ es: Niemand darf uns trennen!
Lass uns nichts als Uns noch spüren,
selig Seel’ in Seele brennen!
Zehn Jahr’ lang glaubt’ ich, dass ich liebte,
zu Hause sitzt mein blass Gemahl,
sitzt und liebt mich, mir zur Qual,
ahnt nicht, was in mir zerstiebte.
Oh ja, wiege mich! Hingegeben
bringt sie jetzt ihr Kind zur Ruh,
ist auch mein Kind — o mein Leben,
oh ja, wiege mich, führ’ mich du!

Taumelnd drängt sich im Glanz der Kerzen
sein wirres in ihr wirres Haar,
drängt sich über zwei taumelnden Herzen
an sein Ohr ihr Lippenpaar:

Oh du, lass du! nit erzählen!
Führe mich sanfter! nit uns quälen!
Du bist mir gut, ich bin dir gut.
Hab doch auch die Seel’ voll Schmerzen,


*) Aus »Zwei Menschen«, einem demnächst erscheinenden »Roman
in Balladen
«.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 102, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0102.html)