Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 111

Hauptmann’s neuestes Bühnenwerk (Schik, F.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 111

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HAUPTMANNS NEUESTES BÜHNENWERK. 111

sich, er versündigt sich an der Allnatur, die keine Schuld
kennt. Indem er sich der Natur anschloss, war er der irdi-
schen Strafe entronnen; nun sinkt er zu Thal und wird von
seinen Mitbürgern gesteinigt.

Dieser dichterischer Bau ist mit echt künstlerischer
Façadenpracht verkleidet. Aber das Ganze steht eingezwängt
in die Monumentalbauten Anderer und gewährt keine sonder-
lichen Perspectiven. Das Problem liegt unter dem Niveau
unserer Zeit. Die künstlerische Ausgestaltung mag den
Dichter befreit haben, das Gros der heutigen Menschen steht
bewusst oder unbewusst darüber. Faustische Seelenkämpfe,
die einst die Männerbrust durchwühlten, sind heute schon
zur Kinderkrankheit geworden. Alles reift jetzt früher. Die
Massen führen in der Gegenwart einen gewaltigeren Kampf
als der Einzelne mit sich. Früher entflammte Einer die
Massen, jetzt die Massen das Individuum. Nebelhaftes Sehnen,
das einst die Greise noch heimsuchte, hört heute beim Jüngling
schon auf. Bei diesem Drama haben wir das doppelte Gefühl
des Märchens: So ein Märchen klingt uns schon wie
ein Märchen. Diese Dichtungsform ist heute nur mehr dann
zu wählen, wenn die Vertiefung der Idee und der Charaktere
so weit geht, dass deren Consequenzen in märchenhafte
Fernen reichen und den realen Boden von selbst verlieren.

Diesmal hat das Temperament Hauptmann’s kaum die
Tragkraft, seine köstlichen Dichtergaben in unsere Zeit zu
schnellen. Die Verse sind unvergleichlich, die Naturschilde-
rungen von unerreichter Feinsinnigkeit; die Gedanken sind
nicht zu moderner Höhe entwickelt. Zu wenig Wurzeln, um
Säfte für alle Theile der Dichtung aufzusaugen, aber doch
eine Dichtung, die aus gutem Boden gewachsen ist.

In Hauptmann’s neuestem finden wir Elemente eines
seiner Erstlings-Werke, der »Einsamen Menschen«, wieder.
Die Seitenwege, die er in der Folge gegangen, führen ihn
jetzt zu seinem Ausgangpunkt zurück. Hier muss seine
Weiterentwicklung wieder ansetzen. Das moderne Drama
würde er fördern wie selten einer. Seine dichterische Ueber-
fülle aber muss er auch an andere Dichtungsarten ver-
theilen. Ein Dichter verträgt keine Beschränkung; aber er
darf sich auch nicht selbst beschränken und Alles der Bühne

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 111, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0111.html)