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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 119

Text

KRITIK.

Burgtheater. Zwei unlite-
rarische, nicht einmal mit dem
Handwerkszeug moderner Technik
hergestellte Stücke. Das einactige
Schauspiel »Das letzte Ideal«
von L’Epine und A. Daudet
behandelt ein ähnliches Thema
wie »Sündige Liebe«, reducirt auf
das durch den Ehebruch der Frau
entzweite Paar. Der Ehebruchs-
gehilfe wird uns geschenkt — er
ist bereits todt und die Frau seit
acht Jahren ihrem alternden Gatten
wieder treu, der nur durch Zufall
von ihrer petrefacten Unthat er-
fährt. Ein Mann, der nicht die
Menschenkenntniss besitzt, aus
kleinen Symptomen das Abwenden
einer Person, die im engsten täg-
lichen Verkehr mit ihm steht,
wahrzunehmen, und erst dann tobt,
wenn die Frau das Alter für Aben-
teuer eben absolvirt hat, erweckt
kaum unsere moderne Theilnahme.
Herr Sonnenthal hatte Ge-
legenheit, alle seine Erfahrungen
im Bühnenehebruch zu reprodu-
ciren, die er schon im Risler
künstlerisch geordnet hatte. Fräu-
lein Adele Sandrock arbeitete
ihre Rolle bis in die unschein-
barsten Details heraus. Der Pu-
blicumsgatte, welcher sich der von
ihr geschaffenen Gestalt erinnert,
wird keine acht Jahre brauchen,
um seine auf Abwege gerathene
Gemahlin zu entlarven. Fräulein

Sandrock’s Haltung, Mienen,
Bewegungen und Tonansatz waren
typisch getroffen, und so manche
Publicumsfrau wird sich um andere
Verstellungskünste umsehen müssen.
Die Schauspielerin hat diesen das
Kainszeichen des Verrathes auf-
gedrückt.

»Die Romantischen«, Vers-
Lustspiel in drei Aufzügen von Ed-
mond Rostand, deutsch von
L. Fulda, geisselt die Sucht Lie-
bender nach romantischen Aben-
teuern, welche sich heutzutage ohne-
hin nur mehr vereinzelt äussert.
Zwei reiche Väter, die ihre an-
einandergrenzenden Besitzungen in
der Hand ihrer Kinder vereinigen
möchten, markiren Feindschaft, um
das conventioneile Moment einer
solchen Heirat abzuschwächen, das
die jungen Leute abstiesse. Offi-
ciell verbieten sie ihren Spröss-
lingen jeden Verkehr, vermitteln
aber selbst heimliche Zusammen-
künfte, arrangiren sogar eine Ge-
fahr, in die das Mädchen geräth,
und geben dem Jüngling Gelegen-
heit, es zu retten, um dann in die
Verlobung zu willigen. Als Percinet
und Sylvette erfahren, dass ihre
Abenteuer von langer Hand vor-
bereitet waren, erkalten ihre Ge-
fühle, und sie suchen wirkliche
Romantik. Diese nun enttäuscht
sie noch viel herber, und nur die
Erinnerung an den Zauber der

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 3, S. 119, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-03_n0119.html)