Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 135
Text
Man schickte Serjoscha zeitlich zu Bett. Heute war die Mama
zu Hause, und man erlaubte Serjoscha nicht, in den Garten zu gehen,
doch weil er sich schlecht aufgeführt, durfte er auch nicht bei der Mama
bleiben. Er war aber froh, als er ausgekleidet endlich in seinem
Bette allein blieb Der Tag ist zu Ende, die Sonne, dieses heisse
und rohe Ungethüm, ist nicht mehr da, und die Nacht ist still, und
auf dem Himmel sind Sterne, die man nach Herzenslust besehen darf:
wenn man vom Bette aufsteht, ganz leise ans Fenster geht und das
Rouleau ein bischen in die Höhe zieht. Er lag zusammengekauert auf
seinem Lager, blickte auf das weisse Rouleau, lachte leise, und seine
schwarzen Augen leuchteten freudig. Die Sterne riefen ihn mit kaum
vernehmlichem, dünnem Klange. Serjoscha warf die Decke von sich,
liess die Füsse vom Bett herunterhängen und horchte. Der Teppich,
den er berührte, war weich und warm. Es war angenehm, darauf zu
stehen. Serjoscha streckte sich aus, lachte vor Freude leise auf und
lief zum Fenster; selbst die kalten Bretter des angestrichenen Fuss-
bodens störten ihn nicht. Er schob das Rouleau etwas empor, legte
sich, das Kinn auf dem Fensterbrett, vor dem Fenster auf die Knie,
und begann mit seinen flimmernden, schwarzen Augen auf die hellen
Sterne zu blicken. Beim verschwommenen Licht der Sterne schien es,
dass über die leichte Fülle der blassen Wangen ein Lächeln huschte,
doch er lächelte nicht mehr, wenn ihm auch fröhlich zu Muthe war. Lange
blickte er auf die Sterne, die kalten und klaren, und durch die Scheiben
der Fenster wehte auf ihn von dorther Kälte und Ruhe. Das Herz
schlug heftig, glücklich in seiner Brust, und er athmete lustig und
rasch, als ergiesse sich etwas Kühles und Fröhliches in seine Lungen.
Er dachte an nichts, alles Tägige war wie ein Traum von ihm ge-
wichen
Die Stimmen im Hause und auf der Strasse verstummten. Ser-
joscha erhob sich, kam auf das Bett zu und begann sich anzukleiden.
Seine Schuhe fand er nicht: man hatte sie weggenommen, um sie in
der Frühe zu putzen. Doch er wusste, dass jetzt Alle schliefen, und
dass ihn keiner sehen würde. Er ging zum Fenster, öffnete es und kroch
in den Garten hinaus, wobei er sich an den Zweigen der Birke fest-
hielt. Unten, auf der Erde, ergriff ihn die Feuchtigkeit und die Kälte
der Juli-Nacht. Er schauerte zusammen. Doch die Sterne blickten
auf ihn — und zu ihnen hob er sein unschönes, blasses Gesicht empor,
lächelte glücklich und lief über die feuchte Erde vom Hause weg zu
jener Bank, auf der er gestern die Sterne betrachtet. Zweige streiften
ihn, seine Füsse wurden feucht, und sein Herz schlug stürmisch, aber er
beeilte sich, es war ja so viel Zeit schon verstrichen, und der gestirnte
Himmel musste von dem blassen Lichte bald verhüllt werden.
Er kam bis zu der Bank, legte sich darauf, blickte auf die Sterne
und athmete, ohne noch zu lächeln, schwer auf. Er spürte Schmerzen:
sein Herz pochte so stark, dass er es in der Kehle und in den Schläfen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 135, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0135.html)