Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 147

Der Fall Miss Vaughan (Panizza, Oscar)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 147

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DER FALL MISS VAUGHAN.
Von Oscar Panizza (Zürich).

»Den Teufel spürt das Völkchen nie,
Und wenn er es beim Kragen hätte.«

Der Teufel hat in diesen Tagen eine furchtbare Niederlage er-
litten. Ein zweibändiges Werk von rund 2000 enggedruckten Gross-
Quart-Seiten, »Die Geheimnisse der Hölle«, welches wieder einmal die
gesammte Menschengeschichte von Nebukadnezar bis Bismarck als in-
fame, zum Nachtheil der heiligen katholischen Kirche und des unfass-
baren Geheimnisses der heiligen Dreieinigkeit unternommene Institution
darstellte, wurde von dem betreffenden katholischen Verlag in Deutsch-
land, Director Kunzle in Feldkirch, aus Furcht vor einer Welt-
blamage zurückgezogen. Der genannte Herr veröffentlicht eine Anzeige
in den Blättern, dass er »trotz bedeutenden Schadens den Verkauf des
Werkes einstelle,« nachdem er erkannt, dass das französische Original
»Le diable au XIXe siècle« von Dr. Bataille sich als Schwindel erwiesen
habe. Bei dem enormen Umfang des Werkes und bei der Höhe der Auf-
lage blieb dem Verleger nichts übrig, als eine Maculaturanlage zu er-
richten, und nun ballen in ganz Oesterreich, Deutschland und der
Schweiz die Closetpapierfabrikanten die Fäuste über den Rückgang der
Preise. Die Niederlage des Teufels ist also eine vollkommene, und die
Sache stinkt gegen den Himmel.

Es ist doch ein eigenthümliches Ding um das stille Weiter-
schreiten des Volksgeistes. Wir haben die Teufelaustreibung in Wemding
vor einigen Jahren erlebt, wo die Patres Kapuziner die ernsthaftesten
Gesichter schnitten, wir haben die Wallfahrten nach Lourdes mitange-
sehen, in Trier wurden die »lückenhaften Stofftheile« des Rockes Christi
den Gläubigen dargeboten, und der Papst warnt in Lungos und Breves,
dass die Freimaurerlogen wahrhaftige Teufelsverbindungen seien. Der
Zeitgeist wendet sich so wie so der Romantik zu, und man glaubt,
der Menschheit wieder einmal etwas bieten zu dürfen: und siehe da,
die Miss Diana Vaughan, die Buhlerin des Teufels, die Mutter des
Antichrists, die Enkelin der Grossmutter des Teufels und smarte Ame-
rikanerin bricht auf der Variétébühne eines katholischen Impresario
mitten während der Vorstellung zusammen, so dass Höschen, Seiden-
tricots und der ganze übrige Teufelsquark offen zu Tage liegt, die
schwerverletzte Dame hinkend in der Coulisse verschwindet und der
Vorhang schleunigst fallen gelassen werden muss.

Da war es vor 30 Jahren doch anders! Damals erschien auch
eine deutsche Uebersetzung eines französischen Teufelswerkes: »Ge-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 147, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0147.html)