Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 141
Text
Von Franz Servaes.
Wir alle haben einst die Vergangenheit gehasst. Wir waren schon
beinahe böse, dass es überhaupt etwas wie eine Vergangenheit für
unser Kunstschaffen gab. Denn wir waren geneigt, in ihr lediglich einen
drückenden Ballast zu sehen, der uns am freien, leichten Schreiten
hinderte. Wir sahen in ihr die paragraphirte Tradition, d. i. Convention.
Und wider die Convention rannten wir Sturm voll zornigen Eroberer-
muthes.
Diese Zeiten des Sturmrennens sind jetzt vorüber. Die Bedeutung
eines Kunstwerkes wird selbst von Hitzköpfen nicht mehr darnach ab-
gemessen, wie provocirend es wirkt. Der Künstler, nachdem er alle
Masken heruntergerissen hat, nimmt langsam die Maske wieder auf,
seine Maske. Die »Fühlung mit der Zeit« scheint ihm nicht mehr so
wichtig, oder er nimmt sie doch nicht mehr so grob wie in seinen
jungen Revolutionsjahren. Leise richtet er zwischen sich und der Zeit
wieder Schranken auf. Er lebt nicht mehr ausschliesslich in der Gegen-
wart, in deren Armuth und Dürre. Höher immer schwillt seine Sehn-
sucht der Zukunft entgegen, und mit demuthvollem Beben naht er,
neuen Vertrauens voll, den aufgespeicherten Schätzen Jahrtausende alten
Menschenfleisses. Der jugenddumme Grössenwahn, dass heute erst, eben
heute, die wahre, die einzige Kunst entdeckt zu werden habe, hat
weiserer Erkenntniss und Selbstbescheidung Platz gemacht. Das Ziel
schraubt man nicht niedriger; aber man bläht sich weniger, um es zu
erreichen. Und ängstlicher hält man von sich ab, was der Kunst fremd
ist und nur dem Tage dient. »Unzeitgemäss« beginnt man wieder zu
werden, muss man werden, wenn man sein anvertrautes Talent in
Reinheit verwalten will.
Hinter uns liegt, das ist gewiss, ein Jahrzehnt der Explosionen.
Vor uns liegt, wenn nicht Alles täuscht, eine Zeit der Abklärung, der
Reife. Dass man Neues will, hat man nun gezeigt; auch dass man
Neues kann. So darf man wohl wieder das Alte wollen und sachte
eine Verbindung anstreben mit dem frisch errungenen Neuen.
Nach dieser Richtung scheint mir die Bedeutung eines Künstlers
zu liegen, dessen Existenz jetzt einen lebhaften Streit der Werthmeinungen
heraufbeschworen hat, Melchior Lechter’s. Als er im »Salon
Gurlitt« (Berlin) im November 1896 als ein Reifer und Fertiger zum
erstenmale ausstellte, da hatte er, wie es schien, mit einem Schlage
die gesammte Kunstwelt bezwungen. So rasche Erfolge machen indess
stutzig. Und die kritischeren Geister sahen strenger auf Lechter hin,
als dies vielleicht ihr erster Antrieb war. Wie kommt es, fragten sie
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 141, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0141.html)