Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 142
Text
sich, dass dieser Mann, der doch wie ein weltferner Priester vor uns
hintritt, von banausischen Zeitdienern mit ungezügeltem Enthusiasmus
als der Heiland der neuen Kunst ausgerufen wird? Hat er denn gar
so wenig, an das diese Leute sich erst gewöhnen müssen? Ist Alles —
selbstverständlich an ihm? Und flugs war dann der Rückschlag da.
Gerade die Feinsten und Anspruchsvollsten, die Selbstkünstler stellten
sich Herrn Lechter kühl, fast feindselig gegenüber. Beinahe waren sie
geneigt, ihm jegliche Bedeutung abzusprechen. Sie fanden ihn ideenlos,
conventionell und im Ganzen sehr wenig merkwürdig. Bestechend, ja,
das liessen sie gelten. Aber wo waren die Ueberraschungen, die
dieser Künstler zu bieten hat?
Ich möchte zu diesem Streite weniger als Aesthetiker Stellung
nehmen wie als Zeitpsychologe. Ich will versuchen, die Erscheinung
Melchior Lechter’s zu erklären, und das wird uns dann wohl auch
ästhetisch einen gerechteren Maassstab geben.
Man kann vielleicht sagen: Melchior Lechter bietet in keinem
einzigen Zuge etwas ganz Neues. Aber sogleich muss man hinzufügen,
in dieser Verbindung, so organisch und abgeklärt, war das vielerlei
Alte doch noch nicht da.
Ein scharfer Rechenkünstler, der die Entwicklungsmöglichkeiten
unserer Kunst abzuwägen und einzustellen verstünde, hätte, so möchte
man wähnen, mittelst einer höheren Art Algebra die Conjunctur »Melchior
Lechter« genau vorher bestimmen können. Ist Lechter kein Bahnbrecher
und Erringer, so ist er doch höchst wahrscheinlich ein nothwendiger
Schlussstein — nicht für Alles, was in unseren Zeiten sich regt, aber
doch für Vieles und Wichtiges.
Zehn Jahre lang hat Melchior Lechter in der Stille gearbeitet.
Und in diesen zehn Jahren vollzog sich all der Lärm, der jetzt sachte
verstummt. Seiner friedlichen, gleichgewichtbedürftigen und ziemlich
phlegmatischen Natur konnte das Geschrei der Kämpfenden wenig zu-
sagen. Er schwieg, aber er blickte scharf hin. Er sah genau, was wurde,
und er vergass nie, was seit langen Zeiten bereits geworden war. Sein
conservativer Sinn hielt gläubig fest an dem Erbe vergangener Jahr-
hunderte. Und als nun die Stunde kam, wo nach all dem vielen be-
unruhigenden Experimentiren das Bedürfniss nach etwas Gewissem,
Zuverlässigem, Erprobtem sich regte, wo auch die Fortgeschrittensten
fühlten, dass man den Zusammenhang mit der Tradition im weitesten
Sinne nicht aufgeben dürfe, da sah Melchior Lechter seinen Augenblick
gekommen und trat mit der lange vorbereiteten Ausstellung seiner
Werke hervor.
Drei Elemente, die bis dahin getrennt nebeneinander hergingen,
hat Lechter in seiner Kunst zu verschmelzen gewusst: mittelalterlichen
Mysticismus, Böcklin’schen Farbenrausch und eine entschieden decorative
Tendenz. Und über dem Allen leuchtet die heitere Griechensonne
Zarathustra’s und schwingen bewegungsvoll die Rhythmen von Wagner’s
»unendlicher Melodie«.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 142, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0142.html)