Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 143

Melchior Lechter (Servaes, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 143

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MELCHIOR LECHTER. 143

Die Gesammterscheinung dieses Künstlers war also wohl vor-
bereitet, und man kann es verstehen, wenn seine Zeitgenossen in ein
jähes Entzücken geriethen und bereits all ihrer Wünsche Erfüllung
gekommen wähnten.

Lechter stammt aus der katholischen Stadt Münster in Westphalen.
Die hieratisch starre und doch immer sinnenfrohe Kunst romanisch-
gothischer Kirchen mit ihrer steilen Pracht und gebieterischen Ent-
rücktheit nährte seine früheste Anschauung. Wie tief das drang, lehren
vor Allem Lechter’s Glasfenster, die seltsamerweise in dem protestantisch-
nüchternen rationalistischen Berlin (im sogenannten »Romanischen Haus«)
grösstentheils eine Heimstätte gefunden haben. Die wuchtigsten freilich
und bedeutungsvollsten hat der Künstler für sich behalten, eines für
sein Bibliothek-, das andere für sein Schlafzimmer.

Aus den Glasgemälden spricht Lechter’s Kunstcharakter am inten-
sesten und concentrirtesten. Hier schlummert das Geheimniss seiner
Farbe, seines Styles. Hier offenbart sich auch das Musikalische seiner
malerischen Empfindung. Mit wenigen, etwas stereotyp angewendeten
ornamentalen Elementen (blauen Sternblumen, ast- und blätterreichen
Bäumen, verschlungenen Weihrauchwolken) werden Umrahmung und
Gliederung mit oft byzantinischer Steife und Eckigkeit angelegt. Die
wenigen Figuren zeigen einfache, feierliche Bewegungen, klar gefaltete
Gewandung und wirken im Wesentlichen gleichfalls decorativ. Sinn-
sprüche (aus Nietzsche, Stephan George, Richard Wagner) und zahl-
reiches symbolisches Beiwerk reden zum inneren Sinn. Die Farben aber
brennen wie heilige Osterfeuer mit unerhörtem Gluthschmelz. In
süchtigen Rhythmen, stolzen Accorden klingt ihr brünstiges Werben.
Aehnlich wie bei Munch oder Jan Toorop rollen sie sich, z. B. auf
dem herrlichen Tristan-Fenster, in welligen Streifbändern über- und
umeinander her, gleichsam Erscheinung gewordene nackte Empfindungen.
Das Stärkste, was Lechter uns zu sagen hat, sagt er hier. Wie mit
Weltgerichtsposaunen redet er uns an, erschütternd und eindringlich.

Das Glasgemälde hohen Styls hat Melchior Lechter, dank seines Studiums
der mittelalterlichen Kirchenkunst, für die modernen Zeiten geradezu wieder
entdeckt. Aber auch darin empfindet er ganz altmeisterlich, dass ihm
das Fenster als solches, losgelöst von seiner Bestimmung und heraus-
gehoben aus dem Verbände der inneren und äusseren Architektur,
nichts bedeutet. Es ist stets für einen bestimmten Platz componirt, es
empfängt seine Weihe erst als Theil jenes harmonisch gedachten
Ganzen. Ein kunstgewerblicher Zug durchdringt so im edelsten Sinne
Lechter’s ganzes Schaffen. Der ästhetische Werth eines einzelnen Kunst-
werkes bleibt fragwürdig, wenn nicht die Umgebung, in der es ge-
wissermassen sein Dasein fristet, selber ein Kunstwerk ist. Der echte
und starke Kunsttrieb zieht Alles in seinen Bereich. Nicht das kleinste,
nicht das prosaischste Geräth des täglichen Lebens lässt er interesselos
passiren. Allem drückt er seinen Stempel auf, Alles bringt er unter-
einander in harmonische Uebereinstimmung. So hat Lechter daheim
sein Bett, seine Stühle, Schränke, Truhen, Tische, die Schlösser selbst

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 143, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0143.html)