Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 151
Text
streut und mit verschmitzten Gesichtern auftreten, in deren Falten der
Grünspan fingerdick liegt
Wer ein bisschen die moderne französische Schartekenliteratur
kennt, richtiger: Wer die Werke Leo Taxil’s bis zum Jahre 1885 ver-
folgt hat und Stylgefühl für einen fremden Autor besitzt, für den kann
es nicht mehr zweifelhaft sein, dass Leo Taxil und niemand Anderer
den »Diable au dixneuvième siècle« verfasst hat. Taxil war bekannt-
lich bis zum genannten Jahr einer der populärsten und fürchterlichsten
Feinde des französischen Clericalismus. Er hat die Freiheit der fran-
zösischen Gesetzgebung, in Wort, Schrift und Bild seine letzten Ge-
danken äussern zu dürfen, bis zur äussersten Grenze ausgenützt. Ja,
er wäre, man kann das offen sagen, der furchtbarste Feind des Christen-
thums in unserem ausgehenden Jahrhundert geworden, wenn er nur
etwas feiner gewesen wäre. Aber er wollte eben für die niederen
Volksclassen schreiben. Und so producirte er Scharteke auf Scharteke,
Colportageroman auf Colportageroman mit den fürchterlichsten In-
vectiven und Abbildungen gegen das römisch-katholische Priesterthum
und wurde so der französische Nietzsche für das gemeine Volk.
Der Verfasser von »La bible amusante« mit den unerhörten Illustra-
tionen von Rick, von »Calotte et Calotins« und der auf authentischem
Quellenstudium beruhenden »Livres secrets des Confesseurs« (die
officiellen, aber geheimgehaltenen Beichtinstructionen sämmtlicher fran-
zösischen Seminare), Paris 1883, darf sich wahrlich in der Geschichte
der Aufklärung sehen lassen. Er pflegte seinen Büchern das Motto
vorzusetzen:
»Tuer la superstition par le rire,
Instruire le peuple en l’amusant,
Enseigner à la jeunesse le mépris de l’imposture et la haine des imposteurs.«
Noch im Jahre 1884 wurde er, weil er die in seiner werthvollen
»La prostitution contemporaine« veröffentlichten Abbildungen, die fran-
zösische Geistliche in schlimmen Positionen zeigten, auch ausserhalb
des Werkes verkauft hatte, zu 14 Tagen Gefängniss und 9000 Francs-
seine Frau zu 5000 Francs Geldstrafe verurtheilt. Dann scheint er
sich besonnen zu haben. Es erfolgte die berühmte Bekehrung. Wie
sie zustande gekommen, ob es eine Gewissens- oder eine Geld-
beutelfrage war, darüber war nichts Sicheres zu erfahren. Man munkelte
von enormen Summen, die es sich die französische Geistlichkeit habe
kosten lassen. Jedenfalls war die eine Bedingung von dieser Seite
sicher und wurde auch ausgeführt: Einstampfung sämmtlicher Taxil-
schen Bücher.
Monsieur Léo Taxil — ich glaube, dass dies auch ein Pseu-
donym ist — ging aus Rücksichten der Convenienz und Zerknirschung
auf einige Zeit in ein Kloster, um hier Askese und Mortification zu
studiren und zu probiren. Aber, es dauerte nicht lange — der heilige
Paulus brauchte länger zu seinem Tag von Damascus — schon im
folgenden Jahre hatte sich Herr Taxil gehäutet, und es erschien das
erste — antifreimaurerische Buch auf dem Büchermarkte: »Les frères
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 151, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0151.html)