Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 154

Die demolirte Literatur (Kraus, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 154

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154 KRAUS.

kein Künstler, nur ein schlichter Librettist, der hier den
Andern mit gutem Beispiel vorangeht. Abgehetzt, von den
Aufregungen der Theaterproben durch und durch geschüttelt,
nimmt er geschäftig Platz: Kellner, rasch alle Witzblätter!
Ich bin nicht zu meinem Vergnügen da! — Während seine
moderneren Tischgenossen in das geistige Leben Wandel zu
bringen bemüht sind, sehen wir ihn dem Handel Eingang
in die Literatur verschaffen. Seine Beziehungen zur Bühne
sind die eines productiven Theateragenten, und er entwickelt
eine fabelhafte Fruchtbarkeit, die sich auf die meisten Bühnen
Wiens erstreckt. Nach jeder einzelnen seiner Operetten
glaubt man, jetzt endlich müsse sich seine Kraft ausgegeben
haben. Doch ein Antäus der Unbegabung, empfängt er aus
seinen Misserfolgen immer neue Säfte. Er erscheint fast
nie allein auf dem Theaterzettel, und pikant müsste es sein,
die beiden Compagnons an der Arbeit zu sehen. Hier ergänzen
sich die Individualitäten wohl so am passendsten, dass, was
dem Einen an Humor fehlt, der Andere durch Mangel an
Erfindung wettmacht. Der Andere ist talentlos aus Passion,
der Eine muss davon leben. Doch scheint solch ein Ge-
schäft seinen Mann zu nähren. Heute gehört ihm eine
Villa, am Attersee herrlich gelegen, — mit Aussicht auf den
Waldberg.

An diesen Kreis von jungen Männern, die nicht schrei-
ben können, sich aber immer nur auf den einen Beruf
capriciren, schliesst Einer sich an, der durch Vielseitigkeit
wohlthuende Abwechslung bietet: Er kann auch nicht
malen. Erst in gereifteren Jahren ging er daran, seiner
Unbegabung auch schriftstellerischen Ausdruck zu geben,
nicht ohne sich vorher eine feste Grundlage umfassender
Bildungslosigkeit geschaffen zu haben, und lange bevor
er durch seine eigenartigen Beziehungen zu der deutschen
Grammatik von sich reden machte, konnte er auf zahl-
reiche Misserfolge als bildender Künstler hinweisen. An
ihm zerschellt jenes bekannte Witzwort, das noch Alle, die
zwei Beschäftigungen in einer Hand vereinigen wollten,
glücklich getroffen hat: die Schriftsteller wissen nämlich
schon, dass er kein guter Maler, und die Maler täuschen
sich nicht mehr darüber, dass er kein guter Schriftsteller

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 154, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0154.html)