Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 155

Die demolirte Literatur (Kraus, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 155

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DIE DEMOLIRTE LITERATUR. 155

ist. Der Letztere bezog lange Zeit hindurch seinen Styl aus
Linz, von wo ja bekanntlich seit einigen Jahren alle literari-
schen Reformversuche ihren Ausgang nehmen. Die Gewalt,
die er bereits nach kurzer Schulung der deutschen Sprache
anthat, war eine unvergleichliche. Wenn es fremdländische
Eigennamen in deutscher Satzverrenkung darzubieten galt,
beschämte er den Meister. Einige seiner Perioden werden
ihm unvergessen bleiben. Die Sensation einer Ehescheidungs-
affaire und des flammenden Protestes, den die Heldin gegen
ihre Verfolger publicirt hatte, erreichte erst den Höhepunkt,
als unser Schriftsteller zur Feder griff und die erlösenden
Worte niederschrieb: »Das Processgebäude, über welches sie
sich ergeht, hing lange Jahre wie das Schwert des Damokles
über dem Haupte der Verfolgten.« Ein kleiner Artikel zu
Hanslick’s siebzigstem Geburtstage — und die gesammte
Auflage seines Blattes war vergriffen. Hanslick, schrieb er
damals, sei, »in Prag geboren, früh auf den Spuren seiner
Zukunft« gewesen. Den Feuilletonisten rühmte er also:

Des flüchtigen Blattes Theilung, wo der Geist sich von der sorgen-
vollen Schwere des Leitartikels, von den ernsten Dingen der Politik
erholen, in schönen Gefilden wandeln und sich belehrend erfreuen soll
können, bietet, wenn er die Feder führt, in reichlicher Münze das, wozu
unter dem Striche der ersten Zeitungsseite das Feuilleton erschaffen ist.
Und wenn man sagen sollte, wie es denn sei, dass es gerade von ihm das
richtige wäre, wo all die tausend Schreiber mit dem lustigen Worte
zur langweiligen tödlichen breitgequatschten Sache Frevel und Miss-
brauch treiben, so hielte es schwer im Vergleiche.

Aus einer impressionistischen Beschreibung des Leichen-
begängnisses eines hohen Herrn:

Gell und grauenhaft steigen Hilferufe auf; ich sehe Körper auf
der Strasse liegen und Menschenfüsse sie fast zertreten. Ich sehe Kinder
mit entsetzensvollem Ausdruck. Warum man doch immer gerade Kinder
mitnimmt ins Gedränge? Warum man der Säuglinge kleine zitternde
Körper nicht schont und in die ersichtliche Gefahr des Erdrücktwerdens
bringt?

In den Zweigen der Bäume hängen Buben und Männer. Ver-
gebens sucht man sie zu vertreiben. Immer wieder klettern sie hinauf.
Selbst am Gitter des Volksgartens stellen sich Neugierige auf. Sie
können zwar nichts sehen; sie bleiben jedoch dort. Sie wollen es so.

Hofrath Kozarek erscheint.

Es fliegen die Hüte von den Häuptern vor dem Leichenwagen
mit den blendenden Schimmeln in ihren goldstarrenden Schabraken.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 155, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0155.html)