Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 157

Die demolirte Literatur (Kraus, Karl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 157

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DIE DEMOLIRTE LITERATUR. 157

hieher. Wer hat am 24. April im Stadttheater in Regens-
burg den dicken Herrn in der »Wildente« gespielt? Wann
trat Herr Rottmann im Burgtheater zum letztenmal auf?
Diese und ähnliche Themen, sonst mit Leidenschaft er-
örtert, müssen doch in den Hintergrund treten, wenn die
Lebensfrage auftaucht: Sind heut’ Freikarten? Jedem Schau-
spieler ist ein Theaterinteressent an die Seite gegeben, der
ihm mit demselben Respecte zuhört wie jener dem Kritiker
des Tisches. Da sind pathetische Vorstadtmimen, die in der
Josefstadt die Tradition des Burgtheaters hochhalten; da
gibt es Bühnengrössen, die auf eine langjährige Wirksamkeit
in der Theaterloge zurückblicken können und sich einen
Ruf als Zuschauspieler des Burgtheaters gemacht haben.

Es folgen Tische, deren Verhältniss zur Literatur nur
noch ein sehr gelegentliches ist. Hier sitzen Leute, deren
Talent sich in den Randbemerkungen und Glossen ausgibt,
mit welchen sie sämmtliche im Literatencafe aufliegenden
Zeitschriften versehen. Manche schreiben in die vornehmsten
Revuen des In- und Auslandes. Diese Autoren unterzeichnen
nicht mit vollem Namen, bleiben demnach dem grossen
Publicum unbekannt. Gleichwohl besitzt ein jeder von ihnen
seine markante Eigenart. Da ist Einer, der durch Jahre und
in dem Wechsel der Richtungen, welchem dieses Kaffeehaus
unterworfen war, seinen Standpunkt bewahrt hat; von ihm
liest man immer noch die eine Aeusserung: »Jud!«

Nicht einmal zu dieser Höhe der Production vermochte
sich eine Gruppe von Jünglingen emporzuschwingen, denen nur
der Vorwand, Stimmungen leicht zugänglich zu sein, ein
Plätzchen im Locale der modernen Schriftsteller eingeräumt
hatte. Manche unter ihnen wussten sich noch insoweit nützlich
zu machen, als sie den Verkehr zwischen den einzelnen Tischen
vermittelten, den Gästen Theaternachrichten zutrugen und
vielen wirklich die Leetüre der Journale ersparten. Als diese
Gesellschaft eines Tages nicht mehr erschien, versicherte der
Marqueur in seiner feinsinnigen Weise, die Herren seien nicht
allein den Beweis literarischer Fähigkeit schuldig geblieben.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 4, S. 157, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-04_n0157.html)