Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 165
Text
Sie wandelt durch den Gartengang,
bebend im Dufte der Syringen,
in Wegen, die am Blüthenhang
sich durch begrünte Gitter schlingen.
Sie geht zur weissumfassten Quelle
und lauscht des Brunnens leisem Sang.
Wie Kinderlachen tönt die Welle,
gemengt mit Stöhnen, fern und bang.
In ihrem Busen schläft ein Wähnen
von einem Glück, das blüthenschwer
in goldnen fruchtgeschmückten Kähnen
gen Abend schwimmt zum hellen Meer.
Ein Vers hat Kunde ihr gegeben,
ein Duft, vielleicht ein altes Lied,
dass irgendfern ein grosses Leben
voll Räthsel durch die Länder zieht.
Das Auge träumt versagte Bahnen,
Entzückung lächelte der Mund.
Durch ihre Seele klingt ein Ahnen
von Paphos oder Amathunt.
München. Oscar Schmitz.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 5, S. 165, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-05_n0165.html)